Seit Winnenden war es ruhig um das Thema Amokläufe und "Killerspiele". Daher hatten wir damals auch nicht über den Vorfall berichtet - das taten die Medien ja ausgiebig. Eigentlich sind auch wir der Meinung, dass das Thema sowieso in Ruhe gelassen werden sollte, da es mit jedem Bericht nur den maroden Boden unter den Killerspielgegnern und -hetzern stärkt. Doch dieses mal machen wir eine Ausnahme, denn es betrifft nicht nur poehse, poehse "Killerspiele" allgemein, sondern auch aktiv die ESL - die Electronic Sports League und eines ihrer größten Events, die Intel Friday Night Games. Warum die Spiele nun schon wieder auf der Kippe stehen, ist fast schon lachhaft, doch da ich diesmal indirekt selbst betroffen bin - ich habe selbst meine zarte, unbefleckte Jugend in Karlsruhe verbracht und wohne auch aktuell nur wenige Kilometer entfernt - muss ich jetzt doch mal etwas Luft machen.



Der Anfang des Jahres...



Rückblicke sind ätzend, vor allem wenn sie bereits vorhandenes zum gefühlten drölfzillionsten Mal wieder aufrollen, doch in diesem Fall müssen wir das leider tun, also packt die faulige Tomaten wieder weg. Stattdessen lieber Popcorn raus und Retro-Graufilter an. Los geht’s. Anfang des Jahres lief Tim K. in seiner ehemaligen Schule in Winnenden Amok und erschoss 15 Menschen. Die Ursachen waren schnell gefunden. "Schießspiele" wie Far Cry 2 (ja, die meinten das Ernst!) und Freizeitaktivitäten wie Paintball waren die bösen Verursacher. Die Schützenvereine stattdessen bekamen Rückendeckung. Doch wer dachte, mit der medialen Ausschlachtung habe sich die Sache erledigt, sollte sich irren. Auch die E-Sport Szene musste unter den Folgen des Amoklaufes leiden. Das beliebte Intel Friday Night Game (kurz IFNG) wurde erstmals seit der siebenjährigen ESL-Geschichte aus heuchlerischen moralischen Bedenken seitens der Stadt Stuttgart kurzfristig abgesagt und stellte die ESL vor mehrere Probleme. Da die Absage blöderweise erst drei Tage vor dem geplanten Event mitgeteilt wurde, konnte kein örtlicher Ersatz mehr gefunden werden, um die Spiele doch noch stattfinden zu lassen. Zum anderen kam es für die ESL zu einem starken Imageschaden, denn die Stadt Stuttgart unterstellte den Liga-Verantwortlichen, dass diese nicht zu einer Einigung bereit gewesen wären, was laut ESL jedoch nicht der Fall war:

Der Dialog über eine Verschiebung der Veranstaltung oder die Verwendung anderer Spiele wurde von der Stadt nicht gesucht, obwohl Turtle Entertainment jederzeit dialogbereit und lösungsorientiert war und ist. Wir bedauern die Absage, denn das Event und die vorgelagerte Eltern-LAN wären eine ideale Möglichkeit gewesen, sich differenziert mit dem Thema Computerspiele als Teil unserer heutigen Jugendkultur auseinander zu setzen und die Mediennutzung junger Menschen zu thematisieren und zu diskutieren.

Durch die Absage per Fax am heutigen Dienstag - weniger als drei Tage vor Beginn des Aufbaus - ist es uns leider nicht möglich einen anderen Austragungsort zu finden. Strom-, Bühnen- und Netzwerkplanungen und vor allem das Anmieten von auf eine andere Halle zugeschnittenem Equipment sind so kurzfristig nicht möglich.


Doch da sich zum Glück nicht alle "Obrigen" von der Kombination Computerspiele und Wettbewerb blenden ließen, fanden die IFNG im schönen, badischen Karlsruhe ein neues Ersatzzuhause. Zu verdanken war dies Oberbürgermeister Heinz Fenrich, der nicht sofort eine Absage erteilte, sondern sich nach eingehender Beratung mit Fachleuten und einer folgenden Rücksprache mit der 'Bundeszentrale für politische Bildung' für eine Austragung der Spiele einsetzte. Grund dafür war auch das Engagement der Bundeszentrale, die zusammen mit der ESL durch eine geplante Eltern-LAN die ahnungslosen Eltern an das, was ihre Sprösslinge so treiben, heranführen soll. Diese Veranstaltung war übrigens auch in Stuttgart geplant, doch scheinbar hielt dies dort niemand für angebracht, sich aufklären zu lassen. 'Dreggade Schwobesäggl!', wie wir hier sagen würden.

Der Sinn dieser Eltern-Lan ist, wie bereits gesagt, die Heranführung der Eltern an das Thema Spiele, sodass die Berührungsängste zum Medium Computer abgebaut werden. Zudem gibt es eine medienpädagogische Einführung in die wunderbare Welt der Computerspiele. Auch der Oberbürgermeister zeigt sich begeistert, denn seiner Meinung nach sind die IFNG eine einmalige Möglichkeit für Außenstehende, das kennenzulernen, womit sich die Sprösslinge so den ganzen Tag über beschäftigten. Ok, mein erster Gedanke war, dass diese Veranstaltung wohl wenig Anklang finden wird, aber ich sollte mich irren. Laut ESL ist das Interesse rege und die steigende Teilnehmerzahl an der Eltern-Lan spricht ebenfalls für sich - heureka! Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Und obwohl Innenminister Heribert Rech reichlich Bedenken hatte, ob das Event wirklich in Karlsruhe richtig aufgehoben ist, weicht Oberbürgermeister Fenrich bis heute nicht von seinem Standpunkt zurück. Ich hoffe, der gute Mann verzeiht mir meine folgenden Worte aber - Verdammt, endlich mal jemand mit Eiern in der Hose!


... und die Nachzügler.



So, schalten wir den Graufilter wieder aus, packen das Popcorn weg, holen die Kotztüten und setzen jetzt in der nahen Gegenwart an. Friede, Freude, Eierkuchen ist nämlich leider immer noch nicht. Ein kleiner Haufen verbitterter Bücherwürmer bläst jetzt zum Angriff gegen die "verstörte Jugend" und die bösen Computerspiele. Die Vereinigung 'Leselust in Baden e.V.' macht, angeführt von der ersten Vorsitzenden Ute Kretschmer-Risché, abermals gegen die Veranstaltung mobil. Der Verein ist primär literarisch in Firmen, Schulen und Jugendtreffs unterwegs und bringt dort den Menschen Bücher und ihre Bedeutung näher, unter anderem auch durch Vorlesungen. So weit, so löblich. Ja, genau - Bücher rocken, wenn sie gut sind und ich rede hier nicht von Feuchtgebieten und Dieter Bohlen Biografien. Doch neben dieser durchaus netten Tat hat es sich der Verein auch zur Aufgabe gemacht,

Eltern, Großeltern, Patentanten, auch Lehrer und Erzieher, [zu informieren], wie wichtig Vorlesen und Lesen für die Entwicklung von jungen Menschen ist und wie schädlich - verkürzt ausgedrückt - der ungezügelte Konsum von TV und Computer.


Wer jetzt denkt, es handle sich um pädagogische Aufklärung über verantwortungsbewussten Umgang der Eltern mit Computerspielen und ihren Kindern, eine Aufklärung der Altersfreigaben oder sonstige sinnvolle Weiterbildungen, der glaubt auch, dass der Duke dieses Jahr noch kommt (höhö!). Leider handelt es sich auch in diesem Fall abermals nur um reine Hetze von ahnungslosen Menschen, die morgens die Bildzeitung frühstücken. Dies erkennt man auch an dem offenen Brief [.pdf, 584kb], den man auf der Vereinswebseite finden kann. Das Elend lautet ungefähr so:


Oft finden wir Entscheidungen von Politikern kontraproduktiv zu unserer ehrenamtlichen Arbeit. Zwei regelrechte Nackenschläge der letzten Zeit waren für uns folgende Meldungen:

1. Das aktuelle politische Hickhack um das angekündigte Verbot von Paintball, das nun doch wieder auf der Kippe steht.

2. Ihr "Nicht-Verbot" der so genannten Karlsruher Computerspieleparty (gebilligt von Karlsruher Gemeinderatsfraktionen).

Haben Sie schon mal in die leeren Gesichter von Kindern geschaut, die zuvor sinnlos im Fernsehen gezappt oder Computerspiele bedient haben? Wir empfehlen die Ausstellung "Ein entzaubertes Kinderzimmer". Wolfram Hahn portraitiert Kinder mit verstörtem Gesichtsausdruck nach hemmungslosem Medienkonsum. [...]


Richtig ekelhaft ist allerdings die Begründung des Vorstandes. Hierbei werden die bekannten Bitten der Familien der Opfer von Winnenden herangezogen, die sich schon mit einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin gewandt haben.

"Wir wollen, dass Killerspiele verboten werden.
Wir wollen mehr Jugendschutz im Internet.
Wir wollen weniger Gewalt im Fernsehen."

Wir fordern alle auf, die positiv auf diese o.g. Punkte Einfluss nehmen können, sofort ihrer Verantwortung gerecht zu werden, in dem sie sich aktiv für einen Wandel einsetzen [...]


Ja, und ich will endlich Urlaub und dass Tokio Hotel aufhören, Musik zu machen. Leider ist das Leben kein Wunschkonzert. Ich möchte natürlich den Familien der Opfer nicht zu nahe treten, denn geblendet von Trauer und Fassungslosigkeit versucht man immer, irgendwie das Unerklärliche zu erklären. Doch dass diese, aus Betroffenheit und Trauer gewählten Bitten, nun für einen literarisch gebildeten Verein als Begründung herhalten müssen, weshalb man die Intel Friday Night Games absagen solle, finde ich einfach nur lachhaft, fast schon traurig. Nichts gegen öffentliche, sachliche Diskussionen über solche Veranstaltungen oder Spiele allgemein, aber hier sitzen offensichtlich Menschen an einem Brief über etwas, wovon sie keine Ahnung und auch keine eigene Meinung haben. Genauer gesagt ist es die Art Mensch, die davon auch keine Ahnung haben will. Dass im Fall Videospiele immernoch Aufklärungsbedarf steckt, ist klar. Nach wie vor denken viele "Außenstehende", auch dank der Medien, falsch über die virtuelle Welt. Genau hier setzt die geplante Eltern-LAN an, um solche Lücken und Verständnisprobleme zu lösen. Anstatt also die IFNG als Chance zu sehen, Brücken zwischen Generationen aufzubauen, nutzt 'Leselust in Baden e.V.' nur abermals die Vorurteile und die Unwissenheit Außenstehender, um selbstgefällige Ziele zu verfolgen und diese auch noch mit den tragischen Erlebnissen der Winnendenopfer zu untermauern. Rückendeckung erhofft sich der Verein dabei von örtlichen Medien wie der größten Lokalzeitung, der BNN, dem Radiosender SWR, diversen kleineren Lokalmedien und natürlich auch vom Bürgermeister selbst. Dieser äußerte sich bisher nicht zu dem Brief und ich hoffe inständig, dass der gute Mann auch weiterhin Rückgrat zeigt.

Erste Wellen zog der offene Brief bereits im Rundfunk - auch die ESL hat von dem Brief Wind bekommen. David Hiltscher, tätig im Community Management, reagiert betroffen, zeigt sich aber eisern:

Wir stehen in engem Austausch mit der Stadt Karlsruhe und der Event wird stattfinden. Es gibt einige Gruppierungen, die durch die Medien angefacht werden, sich in die öffentliche Debatte um die Veranstaltung einzuschalten. Allerdings fehlt es da größtenteils am nötigen Wissen. Wir werden uns engagieren, die Parteien und Vereine aufzuklären über Informationsveranstaltungen, die Eltern-LAN und eine Podiumsdiskussion.

Am besten wäre es natürlich, wenn die Damen und Herren in persona vorbeischauen am 5. Juni in der Schwarzwaldhalle. Dann würden sich die Vorurteile ganz schnell in Wohlgefallen auflösen.


Wie Recht der gute Mann doch hat. Zum Glück hat Karlsruhe einen Oberbürgermeister, der scheinbar ebenfalls einen ähnlichen Gedankengang hegt und lieber aufklärt, statt zu unterdrücken. Abschließend möchte ich den Damen und Herren der Bücherratten e.V. noch einen kleinen Denkanstoß mitgeben, den ich auf dreisechzig.net einst bei dem geschätzten Kollegen Boris Schneider-Johne gelesen habe:

[...] Zurück zu Stuttgart. Hey, nicht mal die Spielverbieter-Vorreiter von der CSU haben es in Erwägung gezogen, die Intel Friday Game Night in München letzten Freitag zu verbieten (vielleicht, weil Intel sein Hauptquartier im Osten von München hat). Aber mal ein heißer Tip: Auf Eurem Frühlingsfest vom 11. April gibt es laut aktueller Ausstellerliste: 2x Fotoschießen, 2x Korkenschießen, 3x Pfeilwerfen, 1x Pistolenschießen und 7x Röhrchenschießen. 15 Schießbuden also und ich erwarte jetzt bitte morgen eine Mitteilung des Bürgermeisters, daß auch diese 15 Schießbuden dieses Jahr nicht teilnehmen dürfen – alleine schon wegen Ostern und seiner christlichen Bedeutung. Und dann könnt ihr meinetwegen auch die ESL aus eurer Stadt jagen. Über den Olympia-Stützpunkt für Sportschützen in Pforzheim reden wir dann später.


Sobald wir weiteres wissen, halten wir euch natürlich auf dem Laufenden. Ich hoffe jedenfalls, dass Oberbürgermeister Heinz Fenrich weiterhin standhaft bleibt und sich die Stadt Karlsruhe nicht ahnungslosen Fähnchen im Wind beugt, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben. Oder literarisch anspruchsvoll ausgedrückt: Natürlich ist es einfacher, Brücken einzureißen, anstatt sie aufzubauen - aber in diesem Fall müssen wir diese nur noch beschreiten.

Kommentare & Likes

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  • gizmo
    #1 | 19. Mai 2009 um 08:33 Uhr
    findet in Karlsruhe nich auch das Cage Fight Championship Dingens (UFC) statt?

    das will natürlich niemand verbieten, is ja auch nur harmloses rumprügeln im käfig....
  • Philipp
    #2 | 19. Mai 2009 um 09:13 Uhr
    Hi gizmo,
    echt? Das wäre mir neu. Obwohl, heutzutage wundert mich da auch nichts mehr. Aber pass auf, der Feind liest mit. Sag das nicht zu laut  Auf der anderen Seite - gab auch schon genug Proteste gegen Gewalt-Bücher, aber davon will natürlich niemand was gehört haben   
  • Hirnkrampf
    #3 | 19. Mai 2009 um 09:17 Uhr
    Schöner bzw. trauriger Artikel  Ich lese auch sehr gerne Bücher und war auch mal in einer Vorlesung von dem Bücherverein (früher, von der Schule aus), aber dass hier jetzt so ein Pseudi-Aktionismus betrieben wird, ist einfach nur lachhaft. Vor allem die Argumentation. Wie du sagst, das ist Labung am Leid anderer (in dem Fall der Winnnendenopfer).

    Ich hoffe, die IFNG finden statt und man lässt sich hier nicht ins Boxhorn jagen. Der OB scheint allerdings ein schlauer Mann zu sein, der auch gerne alle Seiten hört, anstatt nur blind zu entscheiden. Schade, dass es davon zu wenige in der Politik gibt.   

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