Sunset Overdrive - Review

Kennt ihr noch Jet Set Radio auf der Dreamcast? Ja? Und erinnert ihr euch noch an die Prototype-Spiele? Jetzt stellt euch mal vor, beide Spiele haben im exzessiven Drogenrausch einen wilden Austausch von Genmaterial und Zeugen ein exklusives Kind für die Xbox One - nur um dann von Crazy Taxi als Ziehvater und WET als große Schwester auf die Spieler losgelassen zu werden. Was jetzt nach hemmungslosem Wahnsinn klingt, beschreibt Sunset Overdrive wohl am Besten. Herzlich willkommen in Sunset City - so schön wie hier sind Chaos und Anarchie nie wieder.


Neulich in einem fiktiven Werbeprospekt:



Hallo und herzlich Willkommen in Sunset City. Hier findest du ein wirklich hübsches Plätzchen zum Niederlassen: knallbunte Häuser, strahlender Sonnenschein, blauer Himmel, azurblaues Meerwasser und eine lockere Nachbarschaft sind die perfekten Bedingungen für den entspannten Lebensabend. Dazu schallt den ganzen Tag heftiger Punkrock durch die Häuserschluchten. Gut, ein eigenes Auto sollte man hier nicht besitzen, denn vor lauter mutierten Freaks in den Straßen kann man die eh nicht mehr befahren. Ist aber auch egal, denn in dieser Stadt bewegt man sich sowieso nur springend oder auf Kanten rutschend vorwärts - die coolen Hipster-Kids in der Stadt nennen das "bouncen & grinden". Achja, an Häuserwänden entlanglaufen und dabei auf Mutationen mit explosiven Teddybären und Bowlingkugeln ballern ist natürlich auch erlaubt.

Wie bitte? Was es mit den Freaks, Zombies oder was auch immer das für Kreaturen sind, auf sich hat? Ach, nicht der Rede wert. Nur ein kleiner Unfall mit diesem hippen, neuen Energy-Drink "OverCharge Delirium", den die Firma Fizzco auf den Markt gebracht hat. Irgendwie waren die mit den Produkttests noch nicht ganz durch, aber der Markt forderte schnell ein total hippes, trendiges Getränk und ... naja. Unfälle passieren, oder? Warum nimmst du nicht zu Beginn erstmal diese Brechstange und haust die Viecher kaputt, bevor du richtige Waffen, Amps und Fallen bekommst? Wie? Brechstange kennst du bereits aus Half-Life? Und sonst verstehst du nur Bahhof? Tja, das wird dir hier etwas öfter passieren.


Sunset Overdrive
Ach wie schön! Ein Feuerwerk zur Begrüßung der neuen Nachbarn.


Na gut, ok. Vielleicht ist in Sunset City nicht alles so schön, wie das Prospekt es verspricht. Gerade zu Beginn zeigt sich der Xbox One exklusive Titel nicht von seiner schönsten Seite. Als Spieler erstellt man sich einen rudimentären Charakter aus vier körperlichen Vorgaben ("groß und stark" oder "schlacksig und sportlich" jeweils als männliche oder weibliche Version) und sucht sich eine passende Frisur und Visage aus. Name? Namen sind Schall und Rauch, wer braucht die schon. Es folgt eine kurze Sequenz und dann geht's auch schon los mit dem ersten Tutorial. Das hetzt den Spieler mit dürftigen Anweisungen in der Nacht über die Dächer der Stadt auf der Flucht vor den Zombie-Kreatur-Mutanten-Viechern-Dings, auch ODs genannt. Das ist leider alles sehr hektisch und wenig eingängig und erinnert eher an die "I have no idea what I'm doing"-Memes, als an anarchotypisches Teenagerverhalten mit abgefahrenen Knarren.


Du denkst, du weißt wie man 3rd-Person spielt? ¡l????ou ?u?p



Generell dauert es sehr lange, bis man die in Trailern gesehene Bewegungsfreiheit richtig auf dem Kasten hat. Nicht falsch verstehen: die Steuerung geht prinzipiell einfach von der Hand. Es wird klassisch auf A gesprungen - vorzugsweise auf Autos und Vordächer, weil die den Charakter in die Höhe schleudern und weiter bouncen lassen als mit einem einfachen Sprung. Mit X grindet man an vorhandenen Kanten, Schienen, Stromkabeln oder sonstigen Ecken. Je länger man bounct und grindet, umso höher steigt der Style-Kombo-Multiplikator, der direkten Einfluss auf diverse Fähigkeiten hat (dazu später mehr). Wer mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen landet, verliert seinen Multiplikator - und genau das passiert zu Beginn im Sekundentakt. Trotz der einfachen Steuerung ist man lange damit beschäftigt, ein Gefühl für die Bewegung zu bekommen. Man muss lernen, die Abstände einzuschätzen, vorausschauend zu springen und die Kamera so einzustellen, damit man das sieht, was man sehen sollte. Bevor man mit einer Knarre im Anschlag durch die Gegend ballert, verbringt man viel Zeit damit, die Umgebung für sich zu nutzen. Die klassische "Einfach zu erlernen, schwierig zu meistern"-Phrase könnte hier nicht passender sein.

Leider ist gerade das erste Tutorial eher kontraproduktiv, da es mich als Spieler im Sekundentakt mit Bildschirminfos zuballert, ohne den Inhalt zu vermitteln. Erst nach der eigentlichen Charaktererstellung nimmt mich ein weiteres Tutorial gezielt an die Hand und bringt die Basics mit akustischer Erläuterung eingängiger bei. Warum denn nicht gleich so?


Sunset Overdrive
... und wenn ich jetzt hier drücke, springe ich?



Ich dreh' dann jetzt mal ganz kurz eine Runde durch, ok?



Wenn man das Anfangs-Tutorial dann gemeistert hat, geht's endlich richtig los. Wir dürfen in einem üppigen, genderneutralen Kleiderschrank herumwühlen und unseren Helden bzw. unsere Heldin ausstaffieren. Gefühlt über 200 Klamotten in jeweils zig Farb- und Stylevarianten stehen dafür anfangs zur Verfügung - später kommen unzählige weitere dazu und auch im Xbox Store wird's in Zukunft noch massig Nachschub geben. Aber Moment: genderneutral? Ja, richtig gelesen: Jeder kann jederzeit alles tragen. Ich will einen Hünen mit zwei Zöpfen, Bikini und Minirock? Kein Problem. Oder eine Femme Fatale mit Muscle-Shirt und zerrissenen Jeans? Kommt sofort! Auch während des Spiels kann man jeder Zeit zwischen dem Geschlecht wechseln und trotzdem den Style beibehalten, den man haben möchte: von knallbunten Regenbogenleggins und rosa Federboa bis hin zum Seemann-Tattoo, Krawatte und Anzug ist alles dabei. Wer richtig steil gehen will, zieht sich einen Panda-Plüschkopf auf die Rübe und rennt mit Flipflops und Sport-BH durch die Welt.

Diese Welt ist dabei in der Tat riesig. Wenn man gelernt hat, sich mit Style durch die Welt zu bewegen, ist man begeistert von dieser offenen Sandkasten-Stadt, die zahlreiche abwechslungsreiche Ort zu bieten hat: von der HotDog-Fabrik zum Hafenbereich über luxuriöse Wohnblöcke bis hin zur gigantischen Hochseilbahn und einem Vergnügungspark ist wirklich alles dabei, was bunt und groß ist. Bunt ist auch das Stichwort für die gesamte Präsentation: auch wenn die Figuren durchaus realistische Gesichtszüge und menschliche Anmutungen haben, dominiert der Cartoon-Look das Bild. Das fängt bei stark gezeichneten Konturen von Objekten an und endet mit hemmungsloser Integration von Onomatopoesie-Elementen: Wenn's knallt, liest und hört man das. Und wo ich gerade von "hören" spreche, komme ich auch direkt zum Soundtrack. Passend zum Setting gibt's ausnahmslos fetzigen (Punk-)Rock auf die Ohren: H-BLOCKx, The Suckers, Bass Drum of Death, The Bronx und viele Anderen sorgen dafür, dass man vor lauter Kopfnicken kaum noch die bunten Farben auf dem Screen scharf sieht.

"Ja, ja! Ich hab's verstanden! Voll Punkrock und Anarchie und bunt und total überdrehter Humor, aber was mach ich denn den ganzen Tag im Spiel?" - Random Citizen


Sunset Overdrive
Sunset Overdrive in a nutshell.



Ich tue was ich will. Aber mit Style - und haufenweise Upgrades!



Im Endeffekt habe ich im Spiel ein großes Ziel: aus der Stadt flüchten. Natürlich ist das nicht ganz so einfach, wie es klingt, denn es stellen sich zig Probleme und Antagonisten in den Weg, die das verhindern wollen. Daher lernen wir im weiteren Verlauf viele abgedrehte Charaktere kennen, die trotz aller Eindimensionalität herrlich charmant und erinnerungswürdig sind. Auf der Gegenseite haben wir die infizierten ODs, Plünderer (Scabs), Sicherheitsroboter von Fizzco und natürliche gigantische, abgedrehte Bossgegner. Um sich der schier unendlichen Zahl an Feinden zu erwehren, stellt Sunset Overdrive massig Möglichkeiten zur Eliminierung zur Verfügung. So dienen haufenweise abgedrehter Waffen dazu, die Gegner zu dezimieren: egal ob ein Gerät, das Schallplatten verschießt, eine Dude-Kanone, die Bowlingkugeln ballert oder ganz klassisch eine Flammenwerfer-Schrotflinte mit männlich anmutenden Testikeln als Munitionsschacht - selten hat man so viel Spaß gehabt, den Schussknopf zu spannen. Manche Missionen spielen Nachts und der Held muss dabei eine Basis verteidigen. In bester Tower Defense Manier gilt es daher vor der Ballerorgie noch Fallen zu platzieren, mit denen wir die Gegnermassen in Schach halten.

Damit es nicht langweilig wird, kann man seinen Helden mit gefühlt tausenden von Upgrades versehen, die unterschiedliche Zwecke erfüllen. So sammelt man für Bouncen, Grinden und Wallrunning diverse Abzeichen, die man gegen permanente Verbesserungen wie "+10% Style für Bounce-Moves" eintauschen kann. Auch Waffen verbessern sich mit der häufigen Benutzung über mehrere Level, werden stärker und können mehr Munition fassen. Zusätzlich können sie mit einer Sekundärfunktion (Amps) ausgestattet werden, z.B. einer zusätzlichen Schock-Elektro-Funktion oder dass Gegner beim Treffer eingefroren werden. Die Amps sind dabei auch auf den Charakter in unterschiedlichen Klassen anwendbar (u.a. "Held", "Bewegung", usw.) - so kann man dem Helden den Schaden erhöhen oder neue Angriffe lernen.


Sunset Overdrive
Die häufigste Anomalie in Sunset City: Explosionen.


Obwohl es gefühlt hunderte Amps, Updates, Upgrades, Level und Verbesserungen gibt, sind die Plätze natürlich stark begrenzt und so kommt tatsächlich eine taktische Komponente ins Spiel, wie man die Amps in einen vernünftigen Einklang bringt. Das klingt alles sehr wild und aufwendig und tatsächlich hätte man ggf. hier und da ein wenig verzichten können, da einen die Menüs gerade zu Beginn schier erschlagen. Übrigens: Nicht alle Amps und Verbesserungen sind permanent! Wie zu Beginn kurz erwähnt, gibt es das Style-Kombometer. Wenn der Multiplikator auf Level 1 ist, sind nur die Helden-Amps aktiv; auf Stufe 2 werden die Waffen-Amps aktiviert und mit der dritten Stufe schalten sich die "Epic Amps" mit ein. Auf der höchsten Stufe 4 sind dann alle Amps aktiviert und die Effekte werden ebenfalls verstärkt. Nettes Gimmick: passend zum Style-Level erhöht sich auch Intensität des Soundtracks. Während auf Stufe 1 noch entspannt gegroovt wird, dürften bei Stufe 4 die meisten Lautsprecher den Freitod wählen.

Netter Bonus: das Spiel passt sich an den Spielstil des Spielers an. Da ich sehr gerne grinde und bounce, bekomme ich mehr Abzeichen für diese Fähigkeiten und kann diese gezielt verbessern, während ich andere Fähigkeiten wie die Wallruns eher hinten anstelle. Das Spiel bestraft einen also nie, sondern belohnt gezielt die Spielweise eines jeden Spielers. Großartig! Großartig ist auch der Multiplayer-Part, der mit dem "Chaos Squad" auftrumpft. Bis zu 8 Spieler machen dort die Sunset City unsicher. Ähnlich wie in Forza Horizon 2 machen sich dabei zu Beginn alle Teilnehmer auf den Weg zum Zielgebiet. Wer zuerst ankommt, darf die Mission starten, welche aus unterschiedlichen Aufgaben besteht (z.B. eine definierte Anzahl an Kills mit einer bestimmen Style-Variante). Schön dabei: trotz unvorstellbarem Chaos gibt die Framerate nicht nach. Wer die Story hinter sich gelassen hat, wird auf jeden Fall mit Freunden online weiterhin eine Mordsgaudi erleben.



HerrBeutel

Fazit von Philipp:

Wahnsinn im Quadrat - so ungefähr lässt sich Sunset Overdrive beschreiben. Ich hatte während meiner Testsession oft neugierige Blicke über meiner Schulter, die sich einig waren: "Keine Ahnung, was du da tust, aber es sieht bunt aus. Und witzig." Eigentlich ist damit auch alles gesagt. Es fühlt sich an, als hätte Insomniac Games einfach einen großen Sandkasten erstellt, ihn bunt angemalt und mit allen "Wäre-es-nicht-total-abgefahren-wenn....?"-Ideen gefüllt, die man in den Brainstorming-Sessions aufgeschrieben hat. Sunset Overdrive ist reinste Anarchie in Spielform, unterlegt mit fetzigem Punkrock und einer fantastischen Comic-Optik. Das kann man sich nicht stundenlang anschauen, aber wohl portioniert bietet der Titel wochenlangen Spielspaß. Bei so viel Sachen, die man machen kann, fällt auch kaum negativ auf, dass sich das Spielprinzip eigentlich sehr schnell wiederholt und repetitiv vor sich hin explodiert. Dafür entschädigt die gigantische, offene Sandkasten-Spielwelt einfach viel zu sehr - vorausgesetzt natürlich man kommt mit der Steuerung klar.

Ein gigantischer, bunter Spielkasten für kleine Anarchisten. Spaß ist, was du draus machst.

Besonders gut finde ich ...
  • gelungene Comic-Welt
  • absurde Waffen
  • herrlich selbstironischer Humor
  • viele böse Wörter
  • gute Synchro
  • Durchbrechen der 4. Wand
  • zahlreiche Querverweise durch die Popkultur
  • interessanter Kombo-Skills-Multiplikator
  • Anarchie!
  • Punkrock!!!111
  • Rock'n'Roll!11ZOMG
  • chaotisch-spaßiger Multiplayer
Nicht so optimal ...
  • zeitintensiver Einstieg
  • uninformatives, erstes Tutorial
  • repetitive Missionen
  • ermüdendes Gameplay
  • Amps & Upgrades etwas überladen

Philipp hat Sunset Overdrive auf der Xbox One gespielt.
Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von Microsoft Studios zur Verfügung gestellt.

Sunset Overdrive - Boxart
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  • Entwickler:Insomniac Games
  • Publisher:Microsoft Studios
  • Genre:Action-Adventure
  • Plattform:PC, Xbox One
  • Release:31.10.2014
    (PC) 16.11.2018

Kommentare & Likes

Folgenden Usern gefällt der Beitrag: DerBene ... und 2 Gästen.
  • DarkRaziel
    #1 | 12. November 2014 um 20:18 Uhr
    Finde das Spiel auch sehr Gut, denn bei keinen anderen Spiel wurde ich lustig ermahnt bei Kennenlernen der Steuerung, dass ich nicht das Mache was mir gesagt wir von der netten Stimme im Hintergrund   
    Und die vielen Lustigen Kommentare und Waffen usw. tun ihr übriges beim Spielverlauf, dass man(n) immer wieder ein Schmunzeln aufs Gesicht gezaubert bekommt.
    Toller exklusives Game für die XboxOne   
  • Tim
    #2 | 6. Dezember 2014 um 01:33 Uhr
    Jetzt haben wir schon Dezember und noch immer keine PC-Version angekündigt. Mist. Am Ende kaufe ich mir dafür doch noch eine Xbox One ... aber eigentlich will ich doch gar nicht   
  • Philipp
    #3 | 8. Dezember 2014 um 08:17 Uhr
    Do it!

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