Assassin's Creed: Syndicate - Review
Venedig, London, Rosenheim: Der Kampf gegen die Serienmüdigkeit
Es ist inzwischen zur Tradition geworden: Zwischen Ostern und Weihnachten erscheint ein neues Assassin's Creed. Und die ersten Jahre ging das gut. Die wunderbare Trilogie um Charmeur Ezio, genau zum richtigen Zeitpunkt der Epochen- und Szenariowechsel in den nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg, schließlich das hervorragende Piraten-Abenteuer mit Edward Kenway. Die Serie hielt sich dem Jahresrhythmus zum Trotz wacker auf den Beinen - bis sie Unity im vergangenen Jahr mit massiven technischen, erzählerischen und inszenatorischen Mäkeln vom rechten Weg führte. Wie schrieb ich noch in meiner Review? "Wenn Unity der Weg ist, den die Serie in Zukunft einschlägt, dann wird sie ihn langfristig wohl ohne mich gehen müssen". Nun ist Assassin's Creed: Syndicate da. Und ich habe ihm eine Chance gegeben - womöglich die letzte.
Und dann kippt sie plötzlich um. Ein Wurfmesser hat ihr von hinten die Kehle aufgeschnitten. Ein Assassine springt vom Monument hinab, hebt die Leiche auf und wirft sie einfach vom Podest. Was macht man in so einer Situation als Demonstrant? Ist doch klar: Man bleibt stehen und jubelt weiter. Bloß nicht so tun, als wäre irgendetwas passiert. Willkommen in Assassin's Creed: Syndicate.
London, Paris, Venedig - ist doch alles dasselbe
Es sind zwei Welten, die in Syndicate aufeinanderprallen. Einerseits die detaillierte, auf jede Textur bedachte, fast schon perfektionistische Rekonstruierung des viktorianischen Londons - andererseits die unsaubere, stagnierende, seit Jahren wiedergekäute Mechanik von Assassin's Creed. Nicht dass dieser Kontrast neu wäre. Allerdings fällt er umso mehr auf, je länger man sich mit der Serie beschäftigt - und mit jedem fortschreitenden Jahr werden die Probleme, die sie plagen, schlimmer. Denn wo sich andere Spiele weiterentwickeln, stagniert Assassin's Creed auf einem Niveau, das schon 2011 veraltet war. Selbst ein Call of Duty schafft es, sich selbst alle 1-2 Jahre frischen Wind in die Segel zu blasen. Ein Batman: Arkham Knight baut auf seiner ursprünglichen Formel auf, erweitert seine Spielsysteme, fügt mit dem Batmobil sogar gänzlich neue hinzu. Ein Assassin's Creed genügt sich damit, ein neues Szenario aufzugreifen, indem es effektiv nur die Texturen auf den immergleichen Bausteinen übermalt. London, Paris, Venedig? Alles das gleiche in anderer Farbe - einmal mit mehr, einmal mit weniger Wasser.
Denn was ist es, was ich in diesen imposanten Schauplätzen mache? Ich laufe herum, erklettere Gebäude, öffne Truhen, die aus unerfindlichen Gründen irgendwo auf den Dächern herumstehen. Ich suche nach Aussichtspunkten, indem ich die Minikarte anschaue und nach dem Adlersymbol schaue. Ich klettere sie hinauf, drücke Dreieck, die Kamera dreht sich, ein neuer Bezirk auf der Karte wurde freigeschaltet. Die Karte zeigt mir nun zehn neue Nebenmissionen an, die ich jedoch ignoriere, weil sie mich nicht interessieren. Ich renne ans andere Ende der Stadt, schlitze auf dem Weg dorthin 20 rot markierte Gegner auf, weil ich es kann und weil es mir gerade beliebt. Vielleicht halte ich noch kurz bei einem Händler an - die übermächtigen Wurfmesser sind mal wieder ausgegangen. Ich laufe weiter, klettere aus Versehen ein Gebäude hinauf, weil die Steuerung muckt. Schließlich erreiche ich mein Ziel: die Hauptmission. Und ich freue mich, weil es richtig gut tut, aus dieser gigantischen, identitätslosen, fadenscheinigen Fassade einer Stadt zu fliehen.
Nudeln mit Pesto
Das sind harte Worte, aber könnt ihr sie bestreiten? Denn welchen Unterschied macht es schon, ob ich nun den Big Ben oder die Notre Dame erklimme? Der Vorgang ist der gleiche: RT und X halten, den linken Stick nach oben neigen, das Ganze bis zur Spitze halten. Und auch die Resultate sind identisch: Die Kamera dreht sich, ein neuer Bezirk auf der Karte wurde freigeschaltet. An sich könnte man anstatt dem Big Ben oder der Notre Dame auch einen riesigen Baum in die Spielwelt stellen und es würde keinen Unterschied machen. Ups - war das etwa eine Anspielung auf Assassin's Creed III? Ich schwöre euch, das war keine Absicht!
Warum schreibe ich so über eine Serie, die ich bis vor wenigen Jahren noch heiß geliebt habe? Vielleicht ist es, weil ich nach all der Zeit satt geworden bin von Assassin's Creed - weil es mich mit immer den gleichen Zutaten füttert, anstatt mal kräftig nachzuwürzen oder gar ein ganz anderes Menü zu servieren. Wer täglich Nudeln mit Pesto isst, kann sie irgendwann nicht mehr sehen. Assassin's Creed serviert seit Jahren die gleichen Nudeln, mal mit mehr, mal mit weniger gutem Pesto, und jede neue Epoche entspricht metaphorisch einem neuen Teller: Man isst immer noch das gleiche, aus dem Silbergeschirr wird lediglich Porzellan. Das Pesto, das die lauwarmen Assassin's-Creed-Nudeln schmackhaft macht, sind die Story und die Charaktere. Unity hatte schlechtes Pesto - Syndicate schmeckt immerhin wieder ganz lecker.
Zum Glück gibt es die Hauptmissionen
Um die Metaphorik endlich zu beenden: Das Pesto in Syndicate heißt Evie und Jacob Frye. Ja, dieses Mal gibt es nicht nur einen, sondern sogar zwei Assassinen als Hauptfigur. Zum einen, weil das spielerischen Fortschritt andeutet. Zum anderen, weil man nach dem "Frauenmodelle sind so schwer zu entwickeln!" Drama zwangsläufig ein weibliches Wesen mit ins Spiel bringen musste. Wieso auch immer die gute Evie letztendlich da ist, ist egal, wichtig ist nur, dass sie da ist. Denn im Zusammenspiel mit Jacob finden wir hier ein wunderbares Zwillingspärchen, dessen neckisches Verhalten zueinander nicht nur äußerst erheiternd, sondern auch richtig sympathisch ist. Auch wenn die Charakterzeichnung gegen Ende etwas inkonsistent wirkt: Ich habe die beiden in mein Herz geschlossen. Genauso übrigens auch den markanten Bösewicht Crawford Starrick, der als Obertempler in London an den Fäden zieht: Er ist ein extravaganter Kerl, ungewöhnlich charmant und intelligent, und er wirkt mit seinen Überzeugungen überaus glaubwürdig. Und auch der wahnsinnig durchtriebene Maximilian Roth ist eine richtig coole Sau. Schön, dass aus Assassin's Creeds Masse an Wegwerf-Templern und Alibi-Partnern endlich wieder ein paar interessante Figuren herausstechen! Dadurch wird die generell ziemlich öde Story zwar nicht 100%ig aufgefangen, die Charaktere sind aber Grund genug, dass ich mich auf jede weitere Hauptmission gefreut habe.
Und natürlich das Missionsdesign selbst, denn innerhalb der Kampagnen-Aufträge gibt es durchaus einiges an Vielfalt, spielerisch wie auch visuell - genannt seien etwa die Szene, in denen ich mit Jacob verletzte Kinderarbeiter aus einer brennenden Fabrik tragen musste, oder die, in der ich verkleidet auf einen Maskenball schlich. Assassin's Creed kann durchaus spannend sein, wenn es das möchte und sich ein bisschen Mühe gibt. Fast alles, was in den Straßen Londons geschieht, kann man vergessen - wenn man dort mordet, schleicht oder mit Pferdekutschen Rennen fährt, dann nicht zum Spaß an der Freude, sondern für Geld und XP. Innerhalb seiner Hauptgeschichte allerdings ist Syndicate, wie auch jedes andere Assassin's Creed zuvor, ein ganz anderes und ein viel, viel besseres und interessanteres Spiel. Wie schön wäre es wohl, wenn diese Liebe zum Detail und Leveldesign überall zu spüren wären? Ich schätze, das werden wir im alljährlichen Releaserhythmus der Serie niemals erfahren.
Anleihen bei Batman und GTA
Denn in diesem Rhythmus werden uns kleine Tweaks als revolutionäre Neuerungen verkauft, selbst die mies zu steuernden Pferdekutschen, die mit das Peinlichste am ganzen Spiel darstellen - es ist geradezu lachhaft, dass die Pferde nicht mal mit der Wimper zucken, wenn man frontal und mit Karacho gegen eine meterhohe Steinwand rast. Oder den offensichtlich von Batman geklauten Grapple Hook, der das manuelle Klettern quasi wegrationalisiert. Aber diese "Neuerungen" müssen in das Spiel hinein, denn womit sonst möchte man es denn bewerben? Damit, dass das Kampfsystem noch immer aus der Steinzeit stammt? Mit einer Passanten-KI, die sich nicht um Leichen schert und nicht mal in der Lage ist, nach einem Mord die Polizei zu rufen? Ubisoft weiß ganz genau, dass man an diesen Punkten noch nicht ansetzen muss, weil sich die Serie so oder so noch gut genug verkauft. Gewerkelt wird folglich nur dort, wo es nötig ist - an Story, Hauptfiguren, Inszenierung und am Umfang, denn umso mehr es zu sammeln gibt, umso länger wird der Mainstream-Gelegenheitszocker an die Konsole gebunden. Zumal jede dieser belanglosen Nebenmissionen ja auch wertvolle Erfahrungspunkte gibt - und mit denen kann man wiederum im Level aufsteigen und eine weitere belanglose Fähigkeit freischalten. Ein Teufelskreis, bis schließlich das zehnte Level erreicht und der letzte Bezirk gerettet ist.
Immerhin ist Syndicate, wenn schon kein spielerisch interessantes, so zumindest ein technisch weitestgehend sauberes Spiel - eines hat es Unity also mindestens voraus. Und es ist insofern von der uPlay-, Multiplayer- und Mikrotransaktionsseuche befreit, dass man innerhalb der Spielwelt jede Truhe öffnen kann, ohne Echtgeld zu zahlen oder sich bei irgendeinem dämlichen Service anzumelden - ein weiterer Fortschritt zu Unity. Damit ist Assassin's Creed für mich definitiv wieder eine spielbare Serie geworden. Damit sie allerdings auch wieder spielenswert wird, muss nach all den Jahren endlich mal feucht durchgewischt werden.
Fazit von Tim:
Nach all den Jahren bin ich müde geworden, müde von Assassin's Creed. Müde von dieser sterilen und identitätslosen Fassade einer Stadt, müde von dem, was ich in dieser Welt tue. Das erste Mal seit Jahren habe ich mich in Assassin's Creed teilweise sehr gelangweilt, das erste Mal fühlte sich ein Teil des Spiels wie Arbeit an. Nicht immer, freilich: Die Hauptaufträge wurden mit jedem Kapitel besser und spannender und sind das, was mich motivierte, weiterzuspielen. Aber das Drumherum ist mittlerweile so sehr vernachlässigt worden, dass es schmerzt. Ich will keine offene Welt, die ich nur deshalb Stück für Stück abgrase, weil ich dafür Geld und XP bekomme. Ich möchte eine Welt, die sich authentisch anfühlt, eine Welt, in der auch ein Leben stattfindet. Rockstar Games würde sich schämen, solch eine tote Stadt abzuliefern, in der es Passanten nicht einmal interessiert, wenn vor ihren Augen ein Mord geschieht oder Leichen von den Dächern fallen - doch Assassin's Creed trägt dieses Trauerspiel offen zur Schau. Und was nützt mir die prächtigste Architektur, wenn an der Spitze des Bauwerks doch nur ein weiterer Aussichtspunkt wartet? Ich war lange Zeit ein großer Fan dieser Serie. Ich habe Assassin's Creed über alle diese Jahre verteidigt. Doch mittlerweile ist auch bei mir eine Serienmüdigkeit eingekehrt. Und ich glaube, dass es radikale Veränderungen braucht, um mich wieder für die Assassinen zu sensibilisieren.
Ein wunderschön anzuschauendes Portrait einer faszinierenden Epoche, getragen von einem Spiel, dessen Zeit schon lange abgelaufen ist. Assassin's Creed ist nicht tot - doch es braucht radikale Veränderungen, damit es wieder auf die Beine kommt.
- Evie und Jacob Frye sind sehr sympathisch
- historisch ein ganz spannendes Szenario
- genug Vielfalt in den Hauptmissionen
- wunderschöne Spielwelt, tolle Grafik
- keine unnötigen Multiplayer-Komponenten
- keine uPlay-Einschränkungen im Spiel
- lange Spielzeit, um alles zu entdecken
- Spieldesign völlig ohne Überraschungen
- quasi keine Weiterentwicklung zu Unity
- identitätslose Spielwelt ist nur Fassade
- KI aller Figuren ist eine Katastrophe
- viele austauschbare Nebenbeschäftigungen
- Greifhaken führt das Klettern ad absurdum
- stumpfes, übersimplifiziertes Kampfsystem
- nur eine Handvoll strunzdummer Gegnertypen
- Kutschen sind lächerlich & blöd zu lenken
- erzählerisch kommt oft kaum Spannung auf
- enttäuschendes Ende, dämlicher Bosskampf
- inkonsequentes Einbinden der Rahmenstory
- künstliche Steigerung der Schwierigkeit
- ... trotzdem immer noch viel zu einfach
- aggressives Pushen von Mikrotransaktionen
Tim hat Assassin's Creed: Syndicate auf der PlayStation 4 gespielt.
Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von Ubisoft zur Verfügung gestellt.
#1 | 4. November 2015 um 23:57 Uhr
#2 | 5. November 2015 um 23:53 Uhr
Der Greifhagen ist Super und ich finde er passt in die moderne Welt.
Und das zu wenig Leute unterwegs sind finde ich nicht, denn bei Unity war es waren durch die Revolution mehr Leute auf der Straße.
Zudem waren die Gassen enger und dadurch wirkte es anders, als auf den breiten Straßen von London.
Aber jeder hat ein anderen Geschmack und meiner ist Getroffen
#3 | 6. November 2015 um 02:11 Uhr
#4 | 27. Dezember 2015 um 15:38 Uhr