Wie Sam Barlow das Adventure neu interpretiert

Ich habe schon öfter von Her Story gelesen, aber gespielt habe ich es erst dieses Jahr. Wobei: Kann man das denn noch "spielen" nennen? Immerhin sieht das, was Sam Barlow als Regisseur auf den Bildschirm bringt, nicht aus wie ein typisches Videospiel - und es hat auch hinter der Kulisse wenig mit dem zu tun, was wir sonst in der Regel darunter verstehen. Mit realen Videoaufnahmen und einem authentisch simulierten Desktop fühle ich mich nicht als Spieler, sondern wirklich als Detektiv. Übrigens nicht nur in Her Story, sondern auch im jüngsten Werk Telling Lies, das nun für Konsolen erschienen ist. Was genau ist das, was Barlow da macht?

Ich denke, oberflächlich könnte man wohl "Adventure" sagen, um Her Story und Telling Lies zu beschreiben. Einen treffenderen Begriff gibt unser Genre-Vokabular derzeit nicht her. Und Adventure konnte ja auch bisher schon in alle möglichen Richtungen interpretiert werden: Point'n'Click à la LucasArts, das klassische Telltale-Konzept, selbst Action der Marke Uncharted oder Tomb Raider wird immer wieder mit dem Wort Adventure verknüpft - die Gemeinsamkeiten liegen eigentlich nur noch darin, dass man in irgendeiner Weise ein virtuelles Abenteuer erlebt. Bringt es "interaktiver Film" vielleicht besser auf den Punkt? Ich fürchte, nein, denn es gibt weder einen klaren roten Faden noch ist die Struktur linear oder nimmt man aktiv Einfluss - mit Spielen wie Late Shift oder Erica haben Her Story und Telling Lies nur die FMV-Technik gemein.

Von daher passen die Werke von Autor und Regisseur Sam Barlow, der vorher übrigens auch das großartige Silent Hill: Shattered Memories geschrieben hat, noch am besten in die erste Kategorie hinein, wenn wir denn unbedingt in Kategorien denken wollen. Aber in der Sache sind sie etwas Neues, etwas Anderes, etwas, zu dem ich persönlich tatsächlich keinen guten Vergleich bemühen kann, weil ich schlicht keinen kenne.


Alles beginnt mit der ersten Suche in der Datenbank. Alle Bilder sind übrigens aus Telling Lies.


Videospielpsychologie



Beide Spiele arbeiten mit einer Idee, die spannend und riskant zugleich ist: Sie legen mir eine große Datenbank an Videos vor, die ich sorgfältig durchforste, um mir durch die dort vorhandenen Videoausschnitte die größere Storyline selbst zu erschließen. Ich starte buchstäblich bei Null, ohne Tutorial, ohne Einführung in die Figuren, die in den Videos auftauchen, ja selbst ohne klares Ziel, wofür ich das tue und was überhaupt als Ergebnis am Ende herauskommen soll. Mehr noch: Was ist überhaupt das Ende? Gibt es ein Ende?

Mit einem ersten Suchbegriff greife ich in die Datenbank hinein und lasse mich von da an einfach treiben. Pro Begriff werden nur die ersten fünf Ergebnisse angezeigt - mit einem "und" komme ich also nicht weit, wenn die Suche 143 Treffer ausspuckt. Schon bald suche ich nach Namen, Orten und Zitaten, manchmal auch nach einem "Fuck!" oder anderen Ausrufen, die Menschen, wie sie auch die Figuren dieser Spiele eben sind, bei Frust oder Wut hin und wieder über die Lippen kommen.

Die Videos selbst sind reale Aufnahmen, gedreht mit echten Menschen vor echten Kameras, und deshalb nicht nur auf den ersten Blick ungewohnt für mein Spielerauge, das sonst entweder In-Engine-Grafik oder CGI-Animation gewohnt ist, auf jeden Fall aber durch einen Computer berechnete Bilder. Manch einer mag diese Art von FMV ("Full Motion Video"), also reale Aufnahmen in virtuellen Spielen, seltsam finden und sich nicht gleich damit anfreunden können. So ergeht es mir in der Regel auch. Aber nicht hier. Denn Her Story und Telling Lies erzählen Geschichten von echten Menschen, glaubwürdigen Charakteren, Geschichten von Eltern, Partnern, Freunden, Kollegen.

Es gibt hier kein Uncanny Valley, sondern man beobachtet die Schauspieler und ihr Verhalten ganz genau: was sie sagen, ob sie lächeln, wie sie sich im Ton vergreifen, ertappt die Haare flechten oder miteinander umgehen. Beide Spiele drehen sich auch um Psychologie, denn nicht nur will ich wissen, was die übergeordnete Storyline ist, sondern ich will die Menschen auch näher kennenlernen und sie verstehen.

Ihre Gefühle, ihre Ängste, ihre Absichten: Das sind die Treiber dieser Videos, die das Anschauen so spannend und das Kennenlernen der Figuren so bedeutsam machen. Ich erlebe Frust und Enttäuschung, Glück und Liebe, manchmal auch Hass und Gewalt hautnah mit. Ein bisschen Voyeurismus gehört dazu, aber es ist hier im Kern eher ein psychologisches Forschungsinteresse, ausgelebt an einer fiktiven und inszenierten, aber glaubwürdigen und greifbaren Story.


Man kann nicht stark genug betonen, wie sehr die Spiegelungen im Monitor zur Atmosphäre beitragen.


Wer bin ich und was ist das hier?



Ich mache das als eine Art Detektiv, der selbst vor dem Bildschirm sitzt und im Spiel - viel mehr Simulation geht nicht - einen virtuellen Desktop mit dem Mauszeiger navigiert. Papierkorb, Explorer und Solitair? Alles da. Regelmäßig blitzt dabei auch das Spiegelbild der Person auf, die im Spiel gerade auf den Monitor schaut. Wer bin ich und warum durchsuche ich diese Videos überhaupt? Auch das ist eine Frage, auf die weder Her Story noch Telling Lies so schnell eine Antwort geben.

Allgemein gibt es verdammt viele Fragen, die sich erst auftun, wenn man Video für Video die Datenbank durchstöbert, neue Erkenntnisse gewinnt, neue Figuren kennenlernt und Wendungen aufdeckt, die man zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch gar nicht versteht. Man lernt dazu, und jedes neue Puzzleteil fügt sich in ein größeres Bild ein, dessen Motiv man erst dann erkennt, wenn die Zusammenhänge klar werden. Fremde Namen klingen bald vertraut und wenn jemand "Weißt du noch?" sagt, dann kann man dem Gedankengang folgen.

Vieles von dem, was ich hier schreibe, klingt abstrakt, und das ist mir durchaus bewusst. Aber es ist mir wichtig, nichts von dem vorwegzunehmen, was man sich in beiden Spielen langsam erschließt. Jeder Hinweis wäre ein Spoiler - desto größer die Unbekannten, umso stärker ist die Erfahrung. Von Her Story wusste ich, als ich es Anfang des Jahres gespielt habe, noch so gut wie nichts - außer, dass es gut sein soll. Vielleicht auch deshalb hat es mich über seine knapp vier Stunden in einer Session an den PC gefesselt. Am Ende war es nicht die Geschichte selbst, die mich begeistert hat, sondern vielmehr waren es dieses neuartige, schwer beschreibbare Ermitteln auf eigene Faust und das Analysieren der Charaktere in den Videos. Telling Lies ist das zweite Kind dieses Konzepts, und nach dem Erfolg von Her Story ist es größer, komplexer, erzählerisch runder und in der Sache spannender. Das ist wichtig, weil es damit das ausgleicht, was ihm gegenüber dem ersten Experiment fehlt: das Neue.


143 Treffer? Um eine relevante Auswahl an Videos zu finden, muss man schon genauer suchen ...


Telling Lies ist besser als Her Story



Telling Lies gibt es schon seit letztem Jahr für den PC, aber erst kürzlich ist es auch für Konsolen erschienen und kostet für knapp sechs bis acht Stunden investigative Arbeit gerade mal etwas unter 20 Euro. Ein mehr als fairer Preis für ein narratives Adventure der ganz anderen Sorte, das ich euch deshalb nur ans Herz legen kann. Selbst kurz vor Schluss, als ich dachte, alles aufgedeckt zu haben, taten sich mit einem Suchbegriff und einem Video plötzlich ganz neue Fragen auf.

Im Gegensatz zu Her Story, das vor allem für seine neue Idee etwas Besonderes war, ist Telling Lies nun auch erzählerisch ausgefeilter, verzwickter, überraschender, packender, emotionaler und vor allem schwerer zu durchschauen - auch wenn es sich mit seinem geistigen Vorgänger das unter dem Strich nicht ganz zufriedenstellende Ende teilt und man sich wundert, warum keiner der Protagonisten nicht auch mal ein Headset zum Videochatten nutzt. Außerdem ist es auf Deutsch für mein Empfinden ungleich schwerer, weil wir mehr Bezeichnungen für die gleichen Dinge haben. Ein "Sorry" hat man schneller aufgespürt als ein "Tut mir leid", das auch "Entschuldigung" oder "Entschuldige" heißen könnte. Und auch die Steuerung könnte trotz Cursor besser sein: Das Vor- und Zurückspulen per Mausbewegung ist unbequem und hakelig.

So oder so: Wenn ihr etwas für kreative Erzählspiele übrig habt, dann merkt euch den Namen Sam Barlow und schaut euch seine beiden Werke unbedingt einmal an. Selbst wenn sie euch am Ende nicht gefallen sollten, sind sie alleine deshalb spielenswert, um über ihr Konzept, den Einsatz von FMV und diese neue Interpretation eines Adventures mitzudiskutieren.



Her StoryTelling LiesSam BarlowFMV
Telling Lies - Boxart
  •  
  • Entwickler:Sam Barlow
    Half Mermaid
  • Publisher:Annapurna Interactive
  • Genre:Adventure
  • Plattform:PC, PS4, Xbox One, Switch
  • Release:23.08.2019
    (Konsolen) 20.04.2020

Kommentare & Likes

Folgenden Usern gefällt der Beitrag: Kithaitaa, Evoli ... und einem Gast.
  • Darius
    #1 | 27. Mai 2020 um 23:20 Uhr
    Klingt im Grunde ganz interessant und das Feedback auf Steam spricht ja auch für sich. Allerdings machen mich diese "Live-Action"-Spiele bzw. "interaktiven Filme" leider mal so überhaupt nicht an. Zwar werden Figuren und Charaktere in Spielen auch immer realistischer, aber "echte" Menschen finde ich dahingehend nochmal was anderes und gewissermaßen befremdlich.

    Mag das eigentlich auch schon in Cutscenes nicht wirklich (wie damals bei Command & Conquer Red Alert, Wing Commander usw.) und auch Live-Action-Trailer finde ich zu 99% ganz schrecklich und nichtssagend. Klingt komisch, ist aber so. Wäre interessant, ob diese Erzählweise und Spielmechanik auch mit fiktiven (computergenerierten) Charakteren funktioniert. Das mit den "Spiegelungen im Monitor" fand ich aber schon cool =)

    Ganz witzig fand ich btw. diese Sichtweise und Inspiration von Sam Barlow:

    "During an interview with Twitch at E3, Barlow referred to Telling Lies as an “open world video” game, referring to the task of openly exploring the video conversations.

    Barlow added that he was inspired by the open world of The Legend of Zelda: Breath of the Wild, though on a different scale. He appreciated that Breath of the Wild allowed players to move in any direction; if they saw something interesting in the difference, they could travel and arrive at a location handcrafted by the developer." - [onlysp.escapistmagazine.com]