Cyberpunk 2077 - Review

Endlich ist es soweit: Über acht Jahre nach seiner ersten Enthüllung und einiger Entwicklungszeit, nach zahlreichen Präsentationen und diversen Release-Verschiebungen sowie einer aus allen Rohren feuernden Marketing-Kampagne, dürfen wir seit Anfang Dezember endlich Cyberpunk 2077 starten und Night City auf eigene Faust erkunden. Ich habe mir eine Power-Schrotflinte eingepackt, das Hacking-Equipment parat gelegt und mich auf die Suche nach dem gemacht, was CD Projekt Red am besten kann - den packenden Geschichten. Ein wenig graben musste ich danach allerdings schon.

Wie gut muss ein Spiel sein, um den Erwartungen der Community gerecht zu werden? Wird man nach jahrelanger Fahrt im Hypetrain nicht zwangsläufig enttäuscht? Oder führt gerade das zu einem verfälschten Review-Ergebnis, weil man sich über so lange Zeit hat blenden lassen und es sich nicht eingestehen möchte? Dass ein Spiel, für welches man sich womöglich mehrere Wochen Freizeit reserviert und eventuell sogar Urlaub beantragt hat, nicht den Erwartungen entspricht - gar weit dahinter zurückbleibt?

Cyberpunk 2077 hat extrem gute Dialoge und Questlines, doch ebenso viele Fehler. Und ich hatte bei meinem Abenteuer in Night City sogar noch Glück, da ich mich für die PC-Version entschieden habe. Wer auf Konsole spielt, vorrangig denen der letzten Generation, dem zeichnet sich bekanntermaßen ein umso verheerenderes Bild als das, was ich hier in meiner Review beschreibe. Doch wie gesagt, es ist bei Weitem nicht alles schlecht, was der polnische Entwickler hier abgeliefert hat. Ganz im Gegenteil.


Cyberpunk 2077
Night City ist eine erstaunlich große Stadt mit vielen Freiheiten.


Gestatten: V. Nomade, Corpo-Ratte, Straßenkind



Wer auch nur ansatzweise mal etwas mit dem Cyberpunk-Genre zu tun hatte, weiß in etwa worum sich alles dreht. Megakonzerne kontrollieren im Grunde jeden Aspekt des alltäglichen Lebens. Was wir essen, wie wir schlafen, wo wir arbeiten und was wir mit unserer Freizeit anstellen. In allen Belangen hat irgend eine riesige Corporation ihre Finger im Spiel und verdient durch unseren Konsum stetig weiter. Wer nicht selbst in den Mühlen der gewinnoptimierten Firmen arbeitet, aufsteigt oder zugrunde geht hat schon beinahe keinen Stellenwert mehr in der Gesellschaft. Diesen absolut mitarbeiterunfreundlichen Unternehmen gegenüber stehen die Netrunner. Sie bewegen sich auf den Datenautobahnen des künftigen Netzes und versuchen die üblen Machenschaften der Konzerne, Korruption und Ränkespiele aufzudecken. Oder sie werden selbst Teil der Maschinerie und verteidigen ihre Bosse gegen Hacker-Angriffe von außen.

Die Gesellschaft ist oberflächlich, geldgeil und jederzeit nahe dem unausweichlichen Abgrund. An allen Straßenecken blinken bunte Neonreklamen, Waffen sind wie Schlüssel oder Brieftasche ständiger Begleiter und der Einfluss asiatischer Kultur weht einem jederzeit entgegen.

Inmitten dieses Schmelztiegels aus unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen, Ethnien und Gehaltsklassen befindet sich V, meine Protagonistin, die wahlweise auch männlich oder genderneutral gespielt werden kann. Doch bevor ich die Kontrolle über die Söldnerin übernehme, kann ich sie in einem Charaktereditor nach meinem Gusto anpassen. Größere Nase, kleinere Augen, Make-Up und Fingernägel gehören hier dank Rollenspiel-Wurzeln zum Standard. Trotzdem hätte ich mir etwas mehr Auswahl gewünscht. Ich war nie 100% mit meiner erstellten V zufrieden. Außerdem fiel mir hier bereits auf, dass das Modell und die Umgebung eine etwas merkwürdige Kantenbildung aufweisen - ein Ausblick in die nächsten Stunden?

Nachdem V nun in voller Pracht vor mir steht, geht es an die Auswahl meiner Herkunft - der Origin-Story sozusagen. Hier darf ich aus drei alternativen Lebenswegen wählen, die mir im späteren Spielverlauf unterschiedliche Boni und Lösungsansätze ermöglichen. Außerdem sind die ersten sechs Stunden absolut unterschiedlich, was einen gewissen Wiederspielwert mit sich bringt: Als Straßenkind kenne ich die Stadt wie meine Westentasche und durchschaue Falschspieler, wenn sie versuchen mich über den Tisch zu ziehen. Der Nomade startet in den Badlands, außerhalb von Night City und hat eine Affinität für Fahrzeuge. Er kann von Beginn an einen Wagen über den Schnellzugriff ordern und ist in der großen Metropole ebenso neu und unbedarft, wie ich als Spieler selbst.

Und dann wäre da noch der Corpo, welchen ich ausgewählt habe. Die Dame im schwarzen Anzug kennt alle Tricks der oberen Chefetagen und weiß, wie der Hase bei den dicken Fischen läuft. Mit Kalkül und umfangreichen Wissen bewaffnet stelle ich mich den Herausforderungen einer Stadt, die täglich zig Menschenleben verschluckt und keinen Platz für Schwächlinge lässt. Hier heißt es: Fressen, oder gefressen werden.


Cyberpunk 2077Cyberpunk 2077
Wer in Night City was von sich hält, zeigt sein Chrom.


Ein sehr umfangreicher Prolog



Gerade zu Beginn ist Cyberpunk 2077 noch weitaus geradliniger, als man es von einem Open-World-Titel erwarten würde. Vor allem als Corpo. Wo Nomaden bereits wenige Minuten nach Spielstart eine kleinere Hub-Gegend mit dem Truck durchforsten dürfen, setzt sich meine V erst einmal ins Büro und danach in ein fliegendes Auto (AV) - schließlich sind wir ja in der Zukunft. Der Boss hat mir einen Auftrag erteilt, den ich mit Hilfe eines alten Bekannten erledigen soll. Mit dem AV werde ich vollautomatisch einmal quer über die Stadt geschippert und kann die Aussicht genießen, um mich kurze Zeit später mit Jackie in einer Bar zu treffen.

Den muskulösen Schmuggler mit dem spanischen Akzent kennt man bereits aus den zahlreichen Promo-Videos, welche die letzten Jahre unsere Bildschirme geflutet haben. Nach einigen Drinks und informativen Gesprächen wird jedoch schnell klar, dass hier nicht alles so läuft, wie geplant. Ohne groß zu spoilern: Natürlich schluckt der größere Fisch den kleineren und spuckt mich ohne tolle Augmentationen und Geld auf die Straße, von der ich mich zuvor lange Jahre hochgearbeitet hatte. Nur Jackie ist geblieben und hilft seinem Cabron wieder auf die Beine. Hier öffnet sich die Spielwelt zum ersten Mal etwas und lässt mich einen kleineren Bezirk der Stadt in Jackies Karre erkunden. Also erst mal Karte öffnen und einen Überblick verschaffen.

Weiter oben hatte ich ja bereits die Kantenbildung angesprochen. Diese macht mir den Überblick auf der Map ziemlich zunichte. Die Vogelperspektive von Night City ist dermaßen verzerrt und undurchsichtig, dass ich mich kaum orientieren kann. Ein Blick in die Grafikeinstellungen schafft Abhilfe - hier sollte man grundsätzlich einige Zeit verbringen, denn nur mit entsprechender Konfiguration ist eine stabile Framerate möglich. Cyberpunk 2077 ist extrem hardwarehungrig und selbst auf einem oberen Mittelklasse-PC fällt die Bildrate, gerade im Stadtzentrum, rapide ab. Um den oben beschriebenen Effekt zu negieren, musste ich glücklicherweise lediglich Nvidia's DLSS ausschalten. Dann war die Karte gestochen scharf und konnte normal verwendet werden.

Bereits in diesem Distrikt gibt es massenweise Aufgaben, Quests sowie zufällige Ereignisse aufzustöbern und zu lösen. Ein kleiner Vorgeschmack auf das, was der Rest des Spiels parat hält. Während ich die Hauptmissionen zunächst gekonnt ignoriere und mich speziell auf Übergriffe von Gangstern gegen die harmlose Zivilbevölkerung fokussiere, lerne ich die Umgebung kennen, treffe auf interessante Persönlichkeiten und merke schon jetzt, dass das Storytelling der Polen weiterhin auf sehr hohem Niveau angesiedelt ist. Was zuletzt bei The Witcher 3: Wild Hunt gelobt wurde, zieht sich wie ein roter Faden im Zukunftssetting weiter. Die längeren Missionen und Hauptquests sind exzellent geschrieben und bieten immer wieder Grund zum staunen. Unerwartete Wendungen, Charaktere mit denen man sich identifizieren kann, oder einfach witzige Dialoge beherrschen fast jede Interaktion.

Wen ich wann, oder überhaupt im Spiel treffe, kommt ganz darauf an, wie ich mich fortbewege, welche Gespräche ich führe und wie intensiv ich mich mit der umgebenden Story befasse. Es ist immer wieder toll, wenn ich mich mit Bekannten unterhalte und von Geschichten erzähle, die ihnen nicht widerfahren sind. So baut man sich ganz natürlich die eigene Spielerfahrung zusammen.

Irgendwann entschließe ich mich dann doch dazu die Hauptmission fortzuführen, um auch den Rest der Stadt erkunden zu können. Als nach einer ganzen Reihe von Ereignissen tatsächlich der Splashscreen mit dem Cyberpunk-Logo auf meinem Monitor erscheint, welcher den Prolog beendet, sind bereits 12 Stunden vergangen.


Cyberpunk 2077
Jackie ist absolut loyal und ein guter Freund von V.


Auftritt - Johnny Silverhand



Nach dieser ausgiebigen Einführung und resultierend aus einigen Handlungen während der Geschichte meinerseits, auf die ich aus Spoilergründen nicht näher eingehen möchte, betritt Keanu Reeves aka Johnny Silverhand die Bühne. Der immer laute, alles kommentierende und zuweilen ziemlich lästige Rockerboy ist zwar schon vor einigen Jahren gestorben, erscheint mir nun aber als digitaler Geist zu jeder sich bietenden Gelegenheit. Keine Quest oder Nebenaufgabe vergeht, ohne dass Johnny seinen Senf dazu abgibt. Mr. Reeves macht seine Sache als eigentlich Verblichener ziemlich gut und im Laufe der Geschichte erfahre ich auch zahlreiche Hintergründe zu ihm, seiner Band Samurai und wie zum Teufel er eigentlich in meinen Kopf gelangt ist.

Doch erstmal den Rest der Stadt erkunden! Unzählige Stunden vergehen, während ich jede Straße abklappere, mir an einem Automaten ein Erfrischungsgetränk ziehe, die Badlands besuche und währenddessen immer wieder gewalttätige Auseinandersetzungen mit Schusswaffen für die Polizei regele. Dabei sei gesagt, dass die Fahrphysik eine gänzliche Rundumkur benötigt. So extrem sperrig und unvorhersehbar musste ich schon lange keine Autos mehr steuern. Das wird besser, wenn man ein paar der Luxusschlitten freischaltet, die quasi am Boden kleben. Doch selbst bei ihnen ist es manchmal fraglich, ob das von Anfang an so geplant war. Wer mal keine Lust aufs Fahren hat, kann die Schnellreise nutzen. Die ins Auge stechenden grünen Neonlichter dienen als Wegpunkte und sind großflächig und fair verteilt.

Das vermeidet nicht nur unnötiges Herumrennen, sondern auch unbeabsichtigten Ärger. Aufgrund der Problematik mit den Autos ist es mir nämlich öfter als gewollt passiert, dass so mancher Passant Bekanntschaft mit meine Stoßstange machte, was binnen kürzester Zeit die bereits angesprochene Polizei auf den Plan rief. Wie man das von Open-World-Games kennt, kommen die Gesetzeshüter in unterschiedlicher Intensität angerückt, je nachdem ob ich einen oder drei Fahndungssterne habe. Anders als in anderen Spielen spawnen diese Polizisten jedoch einfach stinkfrech in meiner unmittelbaren Umgebung und eröffnen das Feuer. Hier wird nicht mit dem Mannschaftswagen angerückt, oder sich aus einem Heli abgeseilt, sondern schlichtweg teleportiert! Das ist nicht nur faules Gamedesign, sondern nimmt einem schlichtweg den Spaß am herumexperimentieren.

Doch bei dieser Macke bleibt es leider nicht. Während des Durchstreifens der Spielwelt hatte ich mehrfach den Bug, dass ich beim "Fall" von einem Gehweg oder Sprung von einem kleineren Felsbrocken plötzlich mit extremer Geschwindigkeit nach unten geschleudert und vom Aufprall augenblicklich getötet wurde. Glücklicherweise darf ich das Spiel jederzeit Schnellspeichern, was erneutes absolvieren schwieriger Passagen minimiert. Und die Ladezeiten sind für ein Spiel dieser Größenordnung überraschend kurz - selbst beim ersten Start. Binnen weniger Sekunden stehe ich wieder mitten im Geschehen. Dieses Feature half mir jedoch nicht darüber hinweg, dass bei einer großen Nebenmission mit Johnny Silverhand im berühmt-berüchtigten Totentanz-Klub ein essentieller NPC fehlte, mit dem ich eigentlich sprechen musste. Ich war nicht in der Lage, diese Aufgabe zu erfüllen. Dieser Fehler wurde mittlerweile durch die ersten Patches und Bugfixes behoben, die relativ zügig nach dem desaströsen Launch vom Stapel liefen und die aggressivsten Aussetzer korrigierten.


Cyberpunk 2077Cyberpunk 2077
Sind der Worte genug gewechselt, lasse ich bleihaltige Argumente sprechen.
Oder verpasse dem Chip im Kopf meines Kontrahenten einen Kurzschluss.


Umbauen, Aufsammeln und in Schale werfen



Neben einer Vielzahl von Problemen macht Cyberpunk allerdings auch einiges richtig. Je mehr ich mich in der Stadt bewege und Aufträge von Fixern annehme, desto höher wird nicht nur mein Level sondern auch meine Street-Credibility. Mein Ruf und Ansehen steigt mit jedem erledigten Job, was mir bei den Ripperdocs bessere Implantate beschert. Ich kann meinen Körper auf unterschiedlichste Art und Weise verbessern und mir zum Beispiel subdermale Panzerung implantieren lassen, meinen Arm mit einem Raketenwerfer upgraden oder mein Nervensystem dahingehend optimieren, dass sich die Zeit verlangsamt sobald ich einem Schlag ausweiche. Das entsprechende Kleingeld vorausgesetzt.

Diese sogenannten Fixer sind Mittelsmänner, von denen jeweils eine(r) pro Stadtbezirk agiert. Sie informieren mich per Telefonanruf über aktuell offene Jobs und fügen sie auf diese Weise organisch meinem Questlog hinzu. So kann ich ihre Anfragen nach und nach abarbeiten, was jedoch gerade beim umher Cruisen zu Beginn des Spiels darin resultiert, dass ich alle zwei Minuten ein kurzes Gespräch halte und mein schnell Tagebuch aus allen Nähten platzt. In Heywood soll ich unerkannt in ein Lager eindringen und Papiere stehlen, in Pacifica läuft ein Cyberpsycho Amok der gestoppt werden muss und in Westbrook wartet ein System darauf, einer Sabotage zum Opfer zu fallen. Jeder Gegner trägt Waffen, Ausrüstung oder Essbares bei sich, was sie nach meinem erfolgreichen Einsatz selbstverständlich nicht mehr benötigen. Also sammele ich fleißig Maschinengewehre, Schrotflinten, Kopfbedeckungen, Müsliriegel und Stiefel auf, die ich entweder sofort ausrüste, sie gewinnbringend verkaufe oder in ihre Einzelteile zerlege, um später mächtigere Gegenstände aus ihnen herzustellen.

Für abgeschlossene Aufgaben und erledigte Gegner erhalte ich klassischerweise Erfahrungspunkte, die meinen Level erhöhen. Bei jedem Aufstieg gibt es zum einen Attributs-Punkte, mit denen ich die fünf Kategorien Körper, Reflexe, Technische Fähigkeit, Intelligenz und Coolness steigern kann. Zum anderen verbirgt sich hinter jedem dieser Oberbegriffe ein umfangreicher Fertigkeiten-Baum, dessen Boni ich mit Perk-Punkten freischalte. Je besser das Grund-Attribut, desto mehr Optionen bieten mir die untergeordneten Skills.

Je nach Skillung können manche Waffen auch gar nicht genutzt werden, was ich völlig okay finde, da diese Einteilung die RPG-Grundlagen des Cyberpunk Pen & Paper unterstreicht. Die Power-Schrotflinte beispielsweise benötigt eine gewisse Anzahl von Punkten beim "Körper"-Attribut, da die schiere Wucht dieser Knarre normal gebaute Menschen schlichtweg umreißen würde. Die Smartweapons sind eine weitere Besonderheit. Sie benötigen einen Link zum Hirn des Benutzers, was über spezielle Handimplantate realisiert wird. Feuert man nun sein Scharfschützengewehr ab, suchen sich die Patronen automatisch selbst den Weg zum Ziel - und fliegen auch gern mal um die gegnerische Deckung herum. Zusammen mit meinem exzellenten Crafting-Geschick habe ich mir so eine legendäre Bleispritze zusammengeschraubt, die aufgrund von erhöhter Krit-Chance und Schaden jeden Gegner mit einem Kopftreffer ausschaltet.

Bei der Kleidung sind die Möglichkeiten jedoch nicht so befriedigend. Generell darf man keinen ausgeprägten Fashion-Sense haben, wenn man am Leben bleiben will. Hier gibt es je nach Level des Outfits rollenspieltypisch Statuswerte. So kann es sein, dass ein Tank-Top einen höheren Rüstungswert hat, als eine Kevlar-Weste, die ich einige Stunden zuvor aufgesammelt habe. Wer also Wert auf ein gutes Aussehen legt, muss mit "Style over Substance" zurechtkommen. Die gut gekleidete Söldnerin von heute kann zwangsweise weniger einstecken. Und wer nur auf die Werte schaut sieht nach kürzester Zeit wie ein absoluter Vollpfosten aus.

Ein eleganter Rock, Armee-Stiefel, Schweißband um die Stirn und ein Muscleshirt sorgen zwar für ausreichenden Schutz, doch ich habe jederzeit Angst, dass das Trauma Team um die nächste Ecke biegt und mich im nahegelegenen Sanatorium abliefert. Hier hätte zum Beispiel ein Assassin's Creed: Odyssey als Vorbild dienen können. In Ubisofts antiker Meuchel-Reihe schaltet man im vorletzten Teil beim Aufheben eines Gegenstandes den jeweiligen Skin frei und kann dessen Aussehen zu jeder Zeit über das Menü auf seine aktuelle Kleidung übertragen. So ist ein einheitlicher Look kein Problem und man kann trotzdem gut einstecken. Diablo 3 macht das mit seiner "Transmogrification" auf ähnliche Art und Weise.

Doch ich muss leider durch Night City laufen und kann mich selbst nicht im Spiegel anschauen. Apropos Spiegel: Ich trug über weite Strecken des Spiels einen Motorradhelm auf dem Kopf und jedes Mal, wenn ich in einen Spiegel geblickt habe, war nicht nur der Helm unsichtbar, sondern auch meine Haarpracht. V stand dann mit Glatze im Badezimmer ... unschön.


Cyberpunk 2077
Geschichten erzählen können CDPR zweifelsohne. Ein paar dieser Eindrücke haben sich auf lange Zeit in meinem Kopf festgesetzt.


Anekdoten, die im Kopf bleiben



Abgesehen von den weiter oben angesprochenen Bugs die den Spielfortschritt verhindern, sind es vor allem kleine grafische Aussetzer, die die Immersion stören. Während sich Jackie eine Portion Nudeln an einem der zahlreichen Street-Food-Läden in Night City reinpfeift, schweben plötzlich ein paar Essstäbchen vor seinem Gesicht. Die bleiben dort dann auch fest verankert, bis der Dialog abgeschlossen und die Mission fortgeschritten ist. Johnny qualmt eine Zigarette nach der anderen, doch sobald er seinen Glimmstängel wegschnippst, schwebt dieser auf magische Weise neben seiner Hand. Kaffebecher, Waffen, Dosen, Einkaufstüten, Milchpackungen - bei fast jedem NPC der etwas in der Hand hält kann man davon ausgehen, dass der Gegenstand nach kurzer Zeit in starrer Pose mitten in der Luft hängt. Gerade in Cutscenes stört das ungemein.

Doch bei aller Kritik muss ich auch nochmal erwähnen, dass hinter den ganzen Mangelerscheinungen ein fabelhaftes Rollenspiel steckt. Wenn mal niemand durch die Gegend clippt, fesseln mich die Gespräche zwischen V und ihren Kumpanen an den Bildschirm und ich will mehr über sie, ihre Beziehung und die Welt drumherum erfahren. Viele der Nebenaufgaben behandeln Themen wie Verlust, Rache, Religion, Liebe oder Betrug und haben aufgrund ihrer beeindruckenden Erzählung einen dauerhaften Platz in meinem Gedächtnis eingenommen. Das fängt bei einem Verkaufsautomaten an, dem ich zu einem besseren Standort verhelfe. Zum Dank spendiert er mir daraufhin einen Kaffee und erzählt mir einen Witz. Diese Blechbüchse treffe ich im Laufe der Story noch ein paar Mal - was aus ihm wird, sollte aber jeder für sich selbst herausfinden.

Mit einem relativ abgewrackten Cop bzw. Privatschnüffler decke ich eine echt abgefahrene Kidnapping-Szene auf, die mir ziemlich unter die Haut ging. Das war starker Tobak. Auf der anderen Seite der Stadt unterstütze ich eine Nomadin bei ihrem verpatzten Auftrag, freunde mich über die nächsten Spielstunden mit ihr an und stehe mit Rat und Tat zur Seite, um das Kriegsbeil mit ihrem ehemaligen Clan zu begraben. Die Braindance-Virtuosin Judy begleite ich zu den Wurzeln ihrer Kindheit. In diese toll inszenierten Momente ist definitiv die meiste Arbeit geflossen. Die Animationen wirken natürlich, Gesichtsmimik ist on point und unsere Unterhaltungen könnten genauso auch im echten Leben ablaufen. Einer der Hauptgründe, warum ich knapp 90 Stunden brauchte, um das Spiel abzuschließen.


Cyberpunk 2077Cyberpunk 2077
Night City ist riesengroß und bietet atemberaubende Panoramen.


Ein weiterer, großer Zeitfresser war der absolut taugliche Fotomodus. Ich hatte schon bei Control oder Horizon: Zero Dawn bemerkt, dass mir ein üppiges Screenshot-Feature durchaus zusagt. Deshalb habe ich in Cyberpunk 2077 unverhältnismäßig viel Zeit mit Beleuchtung, leichtem Neigen der Kamera, verändern meiner Pose, Farbanpassungen, dem Anziehen passender Outfits, Rahmen, Stickern und Kontrast verbracht. Unter dem Hashtag #Shutterpunk teilen viele SpielerInnen ihre besten Foto-Shootings auf Twitter, dort gibt es echt gute Shots zu sehen! An dieser Stelle darf sicherlich auch die Erwähnung der Hochglanz-Galerie von Screenshot-Profi Petri Levälahti nicht fehlen.


Umfangreicher Cyberpunk-Begleiter von Piggyback



Politiker, welche unwissentlich einer Gehirnwäsche unterzogen werden, Überfälle, Rettungsmissionen, schnelle Luxusboliden die in meinen Besitz wandern - es gibt wirklich massenweise Arbeit in Night City. Das offizielle Buch zu Cyberpunk 2077 von Piggyback Interactive, welches mir freundlicherweise von Piggyback zur Verfügung gestellt wurde, lässt euch noch tiefer in die Cyberpunk-Welt eintauchen und vieles (neu) erleben und ergründen.

In diesem rund 500 Seiten umspannenden Werk, das in Zusammenarbeit mit dem Entwicklerteam von CD Projekt Red entstanden ist, finde ich neben der Ursprungsgeschichte der Stadt und dutzenden Werbeanzeigen der irren Zukunftsmarken, auch Infos zu allen Aufträgen, die mir in die Hände fallen können. Zahlreiche hochauflösende Karten zur Spielwelt, genaue Koordinaten, Fotos der Umgebung, eine detaillierte Beschreibung, was mich dort erwartet und vieles mehr. Hier kommt jede Menge zusammen, weshalb der dicke Wälzer auch fast zwei Kilogramm auf die Waage bringt. Ansprechend illustriert, macht die Collector's Edition mit ihrem leicht schimmernden Einband einiges her und die Screenshots bzw. Artworks im Innern stimmen auf weitere Stunden mit V ein.

Insbesondere für die Wegbeschreibungen war ich oft dankbar, strotzt die Stadt doch nur so von Vertikalität. Viele Gassen und Hochhäuser können über Lüftungsschächte, Autobahnbrücken oder Treppen erreicht werden und erweitern so die Fläche und Möglichkeiten des Spielplatzes um ein Vielfaches.

Wie gewohnt, und zuletzt anhand des goldenen Begleiters zu The Legend of Zelda: Breath of the Wild ausführlich von Kollege Tim vorgestellt, erhaltet ihr auch mit diesem umfangreichen Guide von Piggyback eine hochwertige und gleichermaßen günstige Ergänzung zum Spiel, welche zudem ganz ohne Spoiler der Handlung auskommt.


Cyberpunk 2077 - Das offizielle BuchCyberpunk 2077 - Das offizielle Buch
Der unverzichtbare und zuverlässige Begleiter in der aufregendsten Metropole der Zukunft.


Ein bitterer Beigeschmack bleibt



Die Frage ist jedoch: Will man überhaupt mehr Zeit in Cyberpunk 2077 verbringen? Wie bereits mehrfach erwähnt, wirkt das Spiel einfach nicht fertig. In den zahlreichen Hintergrund-Artikeln zur Entwicklung und den Missständen selbiger, beschreibt Jason Schreier - neben teils fragwürdigen Arbeitsbedingungen und diverser sogenannter Crunch-Phasen - in einem seiner Artikel die mutmaßliche Befürchtung. Demnach ging ein Großteil der Entwickler davon aus, dass Cyberpunk 2077 nicht vor 2022 erscheinen würde. Und wenn man sich Night City anschaut, muss man dem wohl leider zustimmen. Nicht nur mit Blick auf die von mir beschriebenen Fehler, sondern auch auf Features und Möglichkeiten die beworben wurden und sich gar nicht oder nicht in der Form im Spiel wiederfinden.

Auch wenn die Stadt riesig ist und vor Leben zu strotzen scheint, wirkt sie trotzdem leer, da die NPCs auf der Straße reine Schau sind. Sie gehen nirgendwo hin, interagieren nur bedingt mit dem Verkehr oder mir als Spieler und verschwinden, wenn man sich wegdreht. Autos erscheinen aus dem Nichts, Gegenstände und Texturen ploppen zu spät ins Bild, immer wiederkehrende Soundaussetzer stören ungemein. Und das Fehlen von alltäglichen Dingen wie einem Frisör, raubt der Stadt noch mehr ihre Glaubwürdigkeit. Ich kann mir an jeder zweiten Straßenecke die Augen verbessern lassen und Implantate meines Nervensystems tauschen, aber Haareschneiden ist keine Option? Ach, kommt schon!

Ich brauche in Sachen Nebenaktivitäten sicherlich keine üppige Fülle wie Golf oder Darts in GTA V, das bekannte Angel-Minigame der Far Cry-Reihe oder die zahllosen Würfelvarianten vom Hexer-Abenteuer, Assassin's Creed: Valhalla und anderen Spielen. Viele von diesen Sachen probiert man einmal aus und dann war's das. Doch gerade solche Kleinigkeiten hätten der kulissenhaften Spielwelt mehr Tiefe verliehen.

In den kommenden Monaten wird sich zeigen, wie CD Projekt Red mit diesem augenscheinlichen Fiasko umgeht. Auch wenn die Vorverkaufszahlen die Produktionskosten wieder eingespielt haben, ist das uneingeschränkte Vertrauen der Gaming-Community fürs erste wohl dahin. Zu viel Augenwischerei, zu viele Probleme und eine absolut missratene Portierung auf die (alten) Konsolen. Hoffen wir, dass die angekündigten Hotfixes und Patches zumindest einen Teil dieser Fehler korrigieren können. Außerdem warten noch kostenlose Content-Updates darauf, implementiert zu werden. Gleiches gilt für die optimierte "Next-Gen"-Fassung für die jüngste Konsolen-Generation, die jedoch erst Ende des Jahres folgen soll. Insgesamt ein Jammer. Und traurig für die sicherlich völlig überarbeiteten Entwickler, dass trotz mehrfacher Release-Verschiebung und zahlreichen Überstunden zum Trotz ein derartiger Launch vollzogen wurde. Denn die hinter all dem Balast verborgene Story ist eine, die man erlebt haben sollte.



Energiekuchen

Fazit von Tobias:

Ich bin in einem riesigen Zwiespalt mit Cyberpunk 2077. Ein Großteil dieses Spiels ist einfach fantastisch gut geschrieben, die Charaktere ziehen mich in ihren Bann und ich will mehr über sie und die Welt um sie herum erfahren. Eine dicht besiedelte Stadt, grandiose Grafikpracht und tiefes Rollenspielgeflecht macht diese Zukunftsdystopie zu etwas ganz Besonderem.

Wäre da nicht die hässliche Fratze, die hinter jeder Ecke, jeder Quest und jedem Dialog lauert. Es vergeht keine Nebenmission oder Spazierfahrt, ohne das Menschen in T-Pose an einer Kreuzung stehen, Zigarettenstummel vor Gesichtern schweben, Autos wahllos durch die Luft geschleudert werden, oder Tonaussetzer die Hälfte des Spiels stumm schalten. Und wir reden hier von der PC-Version. Wie heftig die Diskussion um die alten Konsolenports geführt wird, sollte mittlerweile jeder an zig Stellen im Netz mitbekommen haben. Erste Patches sorgen zwar für etwas Besserung, doch wie viel Arbeit muss CDPR noch investieren, um Cyberpunk 2077 auf allen Plattformen möglichst spielbar zu machen? Natürlich ist da einiges geplant, doch reicht das aus, um den katastrophalen Start wett zu machen und geprellte Kunden sowie Aktionäre zu besänftigen?

Besonders gut finde ich ...
  • gute Hauptgeschichte mit interessanten Charakteren
  • teils hervorragende Nebenquests mit Tiefgang
  • wunderschöne Grafik inkl. Ray-Tracing und 4K-Support (PC)
  • ausgefeiltes RPG-System mit massig Möglichkeiten
  • Night City ist ein riesengroßer Spielplatz
  • drei sehr unterschiedliche Spielstarts erhöhen den Wiederspielwert
Nicht so optimal ...
  • Bugs, die das Beenden von Missionen verhindern
  • dreistes Spawnen der Polizei ergibt keinen Sinn
  • schwebende Zigaretten, Dosen, Waffen u.ä. ruinieren Cutscenes
  • Animationen der kleineren NPCs oft steif
  • Soundaussetzer
  • Grafikprobleme, verwaschene Texturen und Pop-Ins
  • miese Fahrphysik
  • fehlende Anpassungsmöglichkeiten bei der Kleidung
  • kulissenhafte Spielwelt

Tobias hat Cyberpunk 2077 auf dem PC gespielt.
Das Spiel für diese Review wurde von Tobias selbst erworben.


Cyberpunk 2077 - Boxart
  •  
  • Entwickler:CD Projekt
  • Publisher:Bandai Namco Games
  • Genre:Action-RPG
  • Plattform:PC, PS4, PS5, Xbox One, Xbox Series
  • Release:10.12.2020
    (PS5, Xbox SX) 2024

Kommentare & Likes

Folgenden Usern gefällt der Beitrag: Kithaitaa, HerrBeutel, Silencer04 ... und 3 Gästen.
  • Darius
    #1 | 12. Februar 2021 um 20:16 Uhr
    Ha! Hab deine Review durchgespielt! Wirklich verdammt schade, wie der Launch und die Entstehung sowie alles drumherum gelaufen ist. Ärgerlich auch, dass vieles im Spiel selbst den eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird und dadurch auch die guten Parts allgemein in den Hintergrund rücken. Das Projekt war wohl insgesamt doch schlichtweg zu ambitioniert, eventuell wächst es ja mit Patches und der Modding-Szene weiter?

    Es wird wohl auch erstmal ein langer Weg für CDPR, das verlorene Vertrauen wiederzugewinnen und viel Arbeit noch dazu. Da ging die über Jahre (auch selbst) befeuerte Hype-Maschinerie zum Ende leider ziemlich nach hinten los. Eventuell lernt die Branche inklusive aller Beteiligten auch etwas daraus.

    Mit einer ordentlichen Next-Gen-Version für die PS5 rechne ich jetzt erstmal nicht vor Anfang 2022 und bis dahin kann ich auch noch locker warten, zumal mich das Spiel im Vorfeld noch nicht sonderlich gecatcht hat - aber das ist ja eher ein subjektiver Eindruck. Für 'ne gute Story bin ich aber jederzeit zu haben, sofern dann auch das Drumherum passt =)
  • Philipp
    #2 | 13. Februar 2021 um 01:31 Uhr
    Sehr schöne, sachliche Review, Tobi. Habe das ganze Spekt- und Debakel ja aus der Ferne beobachtet und bi gespannt, wie sich das Spiel entwickeln wird. Irgendwann wird es vllt mal in den Gamepass rutschen und dann werfe ich einen Blick rein. Bis dahin schrecken mich die vielen großen und kleinen Probleme einfach zu sehr ab.