Gray Matter - Review

Ist es wirklich da? Habe ich gerade wirklich den Abspann von Gray Matter gesehen? Man kann es kaum glauben - habe ich doch Monate .. Jahre .. ja fast ein Jahrzehnt auf dieses Spiel gewartet. Ich weiß, was Frau Jensen kann. Ich weiß, dass sie es bisher immer geschafft hat, mich um den Finger zu wickeln und zu verzaubern. Und wieder einmal hat sie bewiesen, dass man sie auch nach so langer Entwicklungszeit nicht anzweifeln muss. Es folgt: eine Liebeserklärung.

Ein Jensen-Adventure ist vollkommen. Vollkommene Harmonie - ob nun das Zusammenspiel und die Entwicklung der Charaktere, die grandiose Musikuntermalung des Robert Holmes oder die Geschichte, die sich von einem meist entspannten Start zu einem mitreißenden Abenteuer entwickelt. Alles passt. Natürlich war ich gespannt, ob man diese typischen Merkmale auch in Gray Matter wiederfinden würde ..


Willkommen in Oxford



Lasst uns entspannt beginnen. Gray Matter handelt von zwei Hauptcharakteren, die ihr auch beide im Laufe des Spiels steuern dürft und entsprechend einen unterschiedlichen Blick auf die Geschehnisse erhaltet. Da wären zum einen Samantha Everett, kurz Sam, die eigentlich auf dem Weg zu einem Zauberclub in London war und dank schlechten Wetters, einer Motorradpanne und einem günstigen Zufall (oder war es doch Schicksal?) schließlich beim düsteren englischen Dread Hill House als Assistentin des dort ansässigen Dr. Styles vorstellig wird. Sam ist auch bekannt als Lady Byron - eine halbwegs berühmte Straßenkünstlerin, die sich bisher in ganz Europa ihr Geld durch Zauberei verdiente. Dr. David Styles wiederum ist der exzentrische Hausherr des Dread Hill House, das einst ein Zentrum zur Erforschung von Wahrnehmungsanomalien war. Auf der Suche nach seiner verstorbenen Frau will er ein neues Experiment wagen, welches untersuchen soll, ob es denn irgendwie möglich sei, mit unserer puren Gedankenkraft die Wirklichkeit zu beeinflussen - kurz: er will wissen, ob Telekinese tatsächlich möglich ist. Wie ihr seht, könnten unsere Hauptdarsteller gar nicht unterschiedlicher sein - Sam, die nur an die Kunst der Illusion glaubt und Dr. Styles, der auf wissenschaftlicher Basis beweisen will, dass das Gehirn nicht nur Luftschlösser bauen kann.

Gray Matter



Ein interessanter Ansatz. Ein weiteres Merkmal der Jensen-Adventures ist die Vermischung von Fiktion und Realität. Auch für Gray Matter wurde entsprechend wieder herausragende Recherchearbeit geleistet. All die Instrumente, die wir in Dr. Styles Labor finden, gibt es beispielsweise auch in der Realität. Die Zaubertricks von Sam basieren wiederum auf bekannten Taschenspielertricks. Apropos Zaubertricks: ich selbst war etwas erschrocken, als ich davon hörte, dass man durch Tricks aus einem Zauberbuch gewisse Rätsel lösen kann und muss. Ich korrigiere: ich war nicht nur erschrocken, es hat mich fast abgeschreckt. Aber ich gebe Entwarnung. Die Tricks werden so gut in den Verlauf der Geschichte eingebaut, dass es einfach niemals wie ein Fremdkörper wirkt - man MUSS einfach zaubern und man will es auch. Kein Trick wird mehrmals verwendet und jeder einzelne hat seine Daseinsberechtigung - ob man nun Gegenstand A bekommen oder Gegenstand B gegen Gegenstand C auszutauschen will. Ganz normales Adventurefeeling, vor dem die Zweifler keine Angst haben sollten. Probieren geht über Studieren.

Gray Matter


Nicht nur in Bezug auf die Magie und die Parapsychologie wurde enorme Recherchearbeit betrieben, sondern auch in Bezug auf den Ort der Geschehnisse selbst. Wer selbst schon in Oxford war, wird die vielen Bauwerke sofort wiedererkennen und sich heimisch fühlen. Doch nicht nur die einzigartige Architektur, sondern auch die Geschichte der Stadt wurde in die Handlung eingebaut. Ob New Orleans, Bayern oder Rennes le Château - jede Stadt eines Jensen-Adventures entsprach mehr oder weniger dem Original. Somit wird wohl auch Oxford in den Genuss der Adventure-Touristen kommen, sollte neben all den Harry Potter Jüngern noch ein Hotelzimmer frei sein.


Fiktion oder Realität



Eigentlich sollte es eine Studentin aus Oxford werden, die unseren Dr. Styles in seiner Arbeit unterstützt. Sam ist allerdings weder Studentin noch aus Oxford und so überrascht es uns nicht, dass sie am nächsten Morgen gerne so schnell wie möglich ihren Weg nach London antreten will, bevor ihre kleine Notlüge enttarnt wird. Natürlich kommt es immer anders, als man denkt. Sam lässt sich auf das Abenteuer Assistentin ein und die Geschichte nimmt ihren Lauf. Für ein Experiment braucht man natürlich Teilnehmer. An sich wäre das kein Problem, gäbe es da nicht diese Gerüchte, die Dr. Styles in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Um Teilnehmer für die Studie zu gewinnen, dürft ihr erstmals die Zauberkiste auspacken. Die Materialien, die ihr für eure Tricks benötigt, findet ihr teilweise in der Umgebung selbst, oder aber in einem ominösen Zauberladen im Zentrum von Oxford. Nimm Gegenstand, packe ihn in die rechte Hand, lenke das Publikum ab, nimm Originalgegenstand, vertausche, manipuliere, lasse überdimensionalen Gegenstand in deinem linken Ärmel verschwinden, händige gefälschten Gegenstand aus. So in etwa dürft ihr euch einen typischen Trick vorstellen - keine allzu große Angelegenheit also. Auch wenn ich des Öfteren darüber schmunzelte, welche Gegenstände Sam doch so in ihrem kleinen Ärmel verschwinden lassen kann. Aber hey - andere Adventures lassen eine Schaufel im Hemd oder ein gigantisches Rohr in der Hose verschwinden.

Gray Matter


Die Teilnehmer sind an Land gezogen und das Experiment kann beginnen. Wie das bei Experimenten so ist, geht natürlich einiges schief. Unerklärliche Ereignisse nehmen ihren Lauf und die Grenze zwischen Fiktion und Realität verschwimmt zunehmend. In der Rolle von Samantha untersucht ihr allerdings nicht nur die seltsamen Vorkommnisse, sondern geht auch eurem eigentlichen Ziel nach: der Suche nach dem berühmten Daedalus Club - einer geschlossenen Gesellschaft, in die nur jene Zauberer aufgenommen werden, die sich durch eine so genannte meisterhafte Illusion empfehlen. Da der Club selbst ein Mysterium ist, gilt es, den Standort irgendwie herauszufinden. Löst ihr diverse Rätsel, bekommt ihr einige Puzzleteile, die wiederum ein weiteres Rätsel darstellen. Nach Abschluss eines jeden Rätsels erhaltet ihr eine Goldmünze, die euch dem eigentlichen Ziel wieder einen Schritt näher bringt.

Gray Matter


In der Rolle des Dr. David Styles untersucht ihr die seltsamen Vorkommnisse im Dread Hill House selbst. Da der berühmte Neurobiologe sich noch immer die Schuld am Tod seiner Frau gibt, versucht er durch Flashbacks die Erinnerung an sie am Leben zu halten. Um die Erinnerungen wieder aufleben zu lassen, müsst ihr all seine fünf Sinne befriedigen. Wein, Melodien, ein Parfum .. jeder Gegenstand ist mit einer Erinnerung verbunden. Ob diese Erinnerung uns nun gefällt oder ob wir diese bewusst verdrängt haben, ist die andere Frage.


Meisterhafte Illusion



Abgesehen von der Story bietet Gray Matter gewohnte Adventurekost. Die Rätsel sind durchweg logisch - zumindest ich hatte an keiner Stelle einen wirklichen Hänger. Bugs oder Abstürze gab es überhaupt nicht. Leider ist aber auch dieses Adventure nicht ganz perfekt. Da wären zum einen die Hotspots, die erst durch gewisse Handlungen verfügbar werden und vorher nicht klickbar sind oder aber Handlungen, die erst verfügbar werden, wenn man vorher etwas anderes ausgeführt hat. Ein kleiner Teufelskreis also, der sich zumindest bei mir nicht großartig auf das Spielgefühl ausgewirkt hat. Nennen wir es Meckern auf hohem Niveau.

Die Grafik selbst ist eine Mischung aus 2D und 3D: 2.5D. Die animierten Charaktere durchstreifen die liebevoll gestalteten Hintergrundgrafiken, die wiederum ab und an etwas steif wirken, da das "Leben" hier etwas zu kurz kommt. Die Zwischensequenzen werden eher im "Max Payne"-Stil präsentiert. Weniger als Comic, doch immerhin als Abfolge gezeichneter Bilder, die teilweise auch minimal animiert wurden, um die Stimmung noch besser einzufangen. Insgesamt wirken die Sequenzen auf den ersten Blick vielleicht einfach gemacht, doch fangen sie gerade durch die optimale Sounduntermalung die Stimmung meist perfekt ein.

Apropos Sound - auch die Musik wurde durch Robert Holmes wieder einmal perfekt in Szene gesetzt. Robert Holmes, nicht nur der Komponist der Gabriel Knight Musik, sondern auch Jane Jensens Mann, sorgte schließlich dafür, dass die ruhige Indie-Rock-Band "The Scarlet Furies" einen Song zum Soundtrack beisteuerte. Die Lead-Sängerin dieser Band ist wiederum die Stieftochter Jensens. Eine rundum gelungene Familienproduktion also. Abgesehen davon überzeugt die Band auch ohne das Spiel - reinhören lohnt sich! Natürlich überzeugt auch die von Holmes komponierte Hintergrundmusik. Fast schon meditativ angehaucht, verleiht sie an gewissen Stellen die nötige Atmosphäre, um euch vollkommen ins Spiel zu ziehen.

Gray Matter


Die Jensen-Adventures sind ebenfalls bekannt für ihre Eastereggs oder versteckten Hinweise. Ein Flurplan in einem Studentenheim erweckte diesbezüglich unerwarteterweise mein Interesse. Dort ansässig waren Roberta Jensen und Jane Williams. Nanu - die beiden Kings Quest VI-Damen mit vertauschten Namen? Ganz nebenbei gibt es hier auch einen John Nakimura neben einer Grace Doe ... Grace Nakimura .. Gabriel Knight .. ein Hinweis auf Teil 4? Des Weiteren scheint Frau Jensen auch ein Fan des Adventures "So blonde" (Sunny Blonde), der Serie Parker Lewis, des Schauspielers Tim Curry, des Gründers der Rael-Bewegung, der "Hot Shots"-Filme und der schwedischen Eurodance-Bewegung zu sein. Oder aber der neue Gabriel Knight handelt von einer Persiflage geklonter Aliens in Strapsen, die gerne zu schwedischer Musik tanzen, während sie mit ihren blonden Freundinnen amerikanische Serien der 90er konsumieren. Denkt an meine Worte, wenn das nächste Adventure angekündigt wird.


Das Ende ist nur der Anfang?



Irgendwann ist auch ein Gray Matter vorbei - nach 10-15 Stunden dürft ihr den Abspann genießen. Zu wenig für ein Adventure? Kommt auf die Sichtweise an. Ich für meinen Teil lasse mich lieber 10 Stunden lang meisterhaft unterhalten, als 20 Stunden lang das Ende herbeizusehnen. Das Finale ist stimmig und erinnerte mich teilweise an das Finale des Gabriel Knight 3. Immerhin in diesem Fall nicht ganz so tödlich. Während die Hauptgeschichte schlüssig ein Ende findet, bleiben einige Punkte offen. Bewusst oder unbewusst? Folgt vielleicht doch noch eine Fortsetzung? Das Potential ist da, die Charaktere sind überzeugend, die Mischung aus Magie und Wissenschaft ist originell. Logische Konsequenz?



"Spiel's nochmal, Jane."


Fazit von Hardcora:

Da ist es wieder. Dieses wohlige Kribbeln nach einem Adventure, bei dem einfach alles stimmt: harmonischer Soundtrack, grandiose Charakterzeichnung, verzaubernde Story und ein "runder" Abschluss. Ich habe in diesem Jahr bereits viele Adventures erlebt - manche haben mich begeistert, andere immerhin einen guten Eindruck hinterlassen. Wer aber erklimmt den Thron zum Adventure 2010? Auf welches Adventure kann man guten Gewissens knapp zehn Jahre warten? Welches Adventure regt zum Träumen an? Welches Adventure beschäftigt euch auch noch nach dem Abspann und lässt euch die Titelmelodie nicht vergessen? Nun - das schafft nur ein Jane Jensen Adventure und in diesem Fall eben Gray Matter. Eine Bitte an die Göttin: lass uns nächstes Mal nicht so lange warten!

Besonders gut finde ich ...
  • stimmungsvoller Soundtrack
  • mitreißende Geschichte
  • Fiktion & Realität
  • sympathische Charaktere
  • unsterbliche Helden
  • grandiose Recherchearbeit
  • gute Synchronisation
  • Zwischensequenzen
Nicht so optimal ...
  • Hotspot-Wirrwar
  • offene Handlungsstränge
  • Wartezeit bis zum nächsten Spiel ..

Hardcora hat Gray Matter auf dem PC gespielt.
Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von DTP Entertainment zur Verfügung gestellt.

Gray Matter - Boxart
  •  
  • Entwickler:Wizarbox
  • Publisher:DTP Entertainment
  • Genre:Adventure
  • Plattform:PC, Xbox360
  • Release:12.11.2010

Kommentare & Likes

Folgenden Usern gefällt der Beitrag: DerBene, JackVanian, Kithaitaa ... und 3 Gästen.
  • JackVanian
    #1 | 25. November 2010 um 01:10 Uhr
    Danke für den schönen Test!  

    Im Gegensatz zu Gabriel Knight oder Tex Murphy hat mich Gray Matter jetzt zwar nicht restlos umgehauen, aber sehr gut hat es mir allemal gefallen. Auch wenn mir persönlich so der allerletzte Funke an absoluter Begeisterung gefehlt hat, habe ich von Gray Matter letztlich genau den Effekt bekommen, den ich zwar fortwährend suche, aber leider in nur sehr wenigen Adventures der letzten Jahre finden konnte: das Gefühl, in einer atmosphärischen Spielwelt wie in einem Buch zu versinken, nicht zum 100.000 Mal eine konstruierte 08-15-Geschichte serviert zu bekommen, nicht schon wieder mit Figuren konfrontiert zu werden, die über so viel Persönlichkeit wie ein Besenstiel verfügen und deren Schichsal mir einfach völlig egal ist. Insofern merkt man hier wirklich wieder sehr deutlich, es mit einem Jensen-Spiel zu tun zu haben, da kann ich persönlich auch kleinere Ecken und Kanten hier und da gut verschmerzen.  

    Vorbildlich fand ich auch die Verbindung von Story und Gameplay. Während ich in nicht wenigen anderen Adventures beim Lösen von unzähligen Inventar-Rätseln, deren Existenz oft reichlich erzwungen wirkt, oft das Gefühl habe, dass Story und Gameplay zwei völlig separierte Elemente sind, die sich im Grunde gegenseitig im Weg stehen, wurde ich bei Gray Matter mit Aufgaben konfrontiert, die im Normalfall dazu gedient haben, die Story voranzutreiben und das Profil der Charaktere zu schärfen. Hier hatte ich das Gefühl, es mit einem organischen Konstrukt zu tun zu haben, in dem sich fast alles der Gesamterfahrung unterordnet. Insofern hätte ich nichts dagegen, diesen Ansatz in modernen Adventures wesentlich regelmäßiger zu sehen, auch wenn mein Optimismus da etwas begrenzt ist.   
  • Darius
    #2 | 25. November 2010 um 02:02 Uhr
    @JackVanian - herrlich. Feedback ansich ist ja schon Gold wert, dann noch von eingefleischten Genrefans - die Freude ist grenzenlos   
    Ich habe das Spiel nur installiert und fand bereits die Musik im Hauptmenü, beziehungsweise beim Start, einfach großartig! Wenn ich in den Wintermonaten die Zeit gefunden habe, alles zu spielen ... dann!
  • JackVanian
    #3 | 25. November 2010 um 03:24 Uhr
    @Kithaitaa

    Ich bin "damals" über Critify auf euren Lost-Crown-Test aufmerksam geworden und fand ihn klasse. Gerade zumal ich das Spiel gerade selbst durch hatte und dementsprechend sehr empfänglich für die Begeisterung gewesen bin, die der Test wiedergespiegelt hat. Danach bin ich dann einfach am Ball geblieben und dank Facebook werde ich ja praktischerweise immer direkt informiert, wenn ihr über etwas aus "meiner Sparte" berichtet.  

    Was du über die Musik im Hauptmenü sagst, empfinde ich übrigens genau so. Ich kann mich da auch nur Caros Worten aus dem Test anschließen, Robert Holmes kann man eigentlich kaum genug loben.

    Ich hätte mir im Bezug auf Gray Matter höchstens gewünscht, dass ein paar mehr Lieder von ihm ihren Weg ins Spiel finden und es dadurch etwas mehr Variation gibt. Aber OK, das ist Meckern auf hohem Niveau.  
  • Hardcora
    #4 | 25. November 2010 um 12:18 Uhr
    "organisch" ist eine schöne Umschreibung - hier gebe ich dir zu 100% recht. Gerade in Bezug auf die oft konstruierten Rätsel in anderen Adventures wirkt hier eben alles *rund* und stilvoll eingebaut.

    Was die Musik angeht: ja, ja, ja! Direkt nach dem Spielstart die ersten Takte gehört und sofort gewusst, dass ich hier ein Jensen/Holmes-Spiel vor mir habe .. ich glaube sogar einige GK-Melodieschnippsel entdeckt zu haben  . Noch mehr Songs wären natürlich toll gewesen, aber immerhin ist die bestehende Auswahl durchweg erstklassig. "The Scarlet Furies" läuft seit dem Spiel bei mir rauf und runter .. herrliche Musik. Hach. Ich komme aus dem Schwärmen einfach nicht heraus  

Hinweis: Der Beitrag ist über 5 Jahre alt, die Kommentarfunktion ist daher mittlerweile geschlossen.